Das Paradox der Heimat

Worten wie Heimat oder Zuhause werden wahnsinnig große Bedeutungen zugeschrieben. Ab wann fühlt man sich nicht mehr fremd an einem Ort, zu dem man frisch zugezogen ist? Ab wann fühlt man sich zuhause? Dieser Übergang zwischen Fremd und Heimisch ist komplett fließend, wie ich festgestellt habe. Manchmal ist etwas sogar Fremd und Heimisch zugleich.

Als wir vor einigen Wochen von einer Reise zum verlängerten Wochenende zurückkamen, da hatte ich dieses bekannte „Endlich Zuhause“-Gefühl. Nach 10 Stunden Zugfahrt (davon 8 Stunden im Nachtzug) und 3 weiteren im Bus in unsere Kleinstadt, waren wir froh, dass wir bald wieder Zuhause in der Schule waren. Auch nach nur wenigen Tagen war es angenehm, wieder in der vertrauten Umgebung zu sein.

Komplett gegensätzlich dazu war dann jedoch die Situation im Stadtbus danach: Eine Gruppe älterer Damen, die ganz aufgeregt waren, dass sie weiße Personen zu Gesicht bekamen.
Das war all fun and games, bis Selfiesticks ausgepackt wurden, und die Damen darauf bestanden, duzende Fotos mit uns zu machen. Wir waren zu dem Zeitpunkt seit 13 Stunden auf Rückreise und wollten eigentlich nur unter die Dusche und dann ins Bett. Stattdessen landeten wir auf verschwommenen Fotos und sogar auf einem TikTok-Video.
Manchmal neige ich dazu, die Größe dieser Kleinstadt zu unterschätzen. 100.000 sind nicht viel in China, aber ganz objektiv betrachtet dann doch zu viele Menschen, um ernsthaft zu denken, dass es nicht noch eine ganze Weile Leute geben wird, die uns noch nicht gesehen haben.
In diesem Moment was das aber gar nicht so lustig für uns, weil wir doch ziemlich geschafft waren von der Reise und eigentlich nur etwas Essen und dann ins Bett wollten.
Obwohl wir also unseres Ermessen nachs Zuhause waren, waren wir für diese Frauen eine fremdländische Attraktion.

Als wir dann endlich an der Schule ankamen und unser Gepäck in unseren Wohnungen stehen lassen konnten, wollten wir noch schnell auf den Markt gehen, um Gemüse für unser Abendessen zu kaufen.
Natürlich wurden wir auch da gefragt, woher wir kämen („Wir sind Deutsche!“) und was wir hier denn machen würden („Wir sind Lehrkräfte an der Number 4 Middle School.“).
Und als wir immer wieder betonten, dass wir keine Tüte für ein einziges Bündel Koreander brauchten, sondern diesen einfach in unseren Beutel reinpacken könnten, da wurde das auch eher verwirrt als verständnisvoll aufgenommen.

Als wir danach im Teeladen unseres Vertrauens vorbeischauten, wurden wir von den Verkaufenden fast schon wie alte Freund*innen begrüßt.
(Hierbei subtil anzufügen ist, dass wir beide hier viel zu viel Milchtee konsumieren.)
Komplett ohne Probleme konnten wir bestellen und diesmal bekamen wir schon automatisch keine Tüte, nachdem wir bei unseren Besuchen vorher mehrmals darum gebeten hatten, keine extra Tüte für den Becher, der eh aus Plastik ist, zu bekommen.

Herzlich begrüßt werden wir auch immer von der Alten Dame, die am Square die Billiard-Tische unterhält, bei denen man für wenig Geld eine halbe Stunde lang spielen kann. Dazu gibt’s dann immer Spieltipps von ihr, was bei uns meistens irgendwann dazu führt, dass sie das Spiel praktisch leitet und wir einfach nur versuchen, mit der weißen Kugel richtig zu treffen.

Ein weiteres Stück Zuhause ist eine unserer Kolleginnen, die uns mittlerweile fast schon adoptiert hat. Sie fragt jedes Wochenende, ob wir am Sonntag zu ihr kommen wollen, um bei ihr Dumplings zu essen.
Letzens sind wir danach mit ihr zum KTV, weil sie am Tag vorher ein wichtiges Examen hinter sich gebracht hatte, und einfach mal einen entspannten Abend mit uns haben wollte.
Vor einigen Tagen brachte sie uns ein Glas Birnentee in die Schule, welches sie von Zuhause mitgebracht hatte, weil ihre Tochter krank war und sie zu viel gekocht hatte. Und sie hatte ja am Vortag gehört, dass wir beide ein wenig gehüstelt hatten und wollte uns einfach etwas gutes tun.

Huixian ist mittlerweile also auf jeden Fall nicht mehr die fremde Stadt, in der uns niemand kennt. Aber es ist eben auch nicht die weltberühmte Westentasche. Oft hören wir noch, wie Leute „Ausländische“ tuscheln, wenn wir an ihnen vorbei gehen. Dann wissen wir, dass diese Leute uns vermutlich einfach noch nicht gesehen haben.

Aber es gibt eben auch die Läden, die uns keine Tüten mehr geben.

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