Die Diffusion der Seele

„Comme du gaz, l’ame tend à occuper la totalité d’espace qui lui est accordé. Un gaz qui se retracterait et laisserait du vide, ce serait contraire à la loi d’entropie. Ne pas exercer tout le pouvoir dont on dispose, c’est supporter le vide. Cela est contraire à tous les lois de la nature: la grace seule le peut. Instants d’arret, de contemplation, d’intuition pure – c’est par ces instants que l’homme est capable du surnaturel. 

Wie ein Gas hat die Seele das Bestreben, den zur Verfügung stehenden Raum in seiner Totalität auszufüllen. Ein Gas, das sich zusammenzieht und ein Vakuum hinterlässt, verhält sich gegen das Gesetz der Entropie. Nicht alle Macht auszuüben, über die man verfügt, bedeutet, eben diese Leere auszuhalten, und das steht im Gegensatz zu allen Gesetzen der Natur: allein die Gnade macht es möglich. Es sind Momente des Stillstandes, der Kontemplation, der puren Intuition, in denen der Mensch zum Übernatürlichen befähigt wird.“ 

Was die französische Philosofin Simone Weil in ihren Aufzeichnungen vor siebzig Jahren nicht erwähnt: Ist der zur Verfügung stehende Raum groß genug, diffundiert die Seele so weit, dass in ihrem Ausgangspunkt eine neue, schwerelose Leere zu entstehen vermag. Als räume sie ganz alleine den Weg zum Übernatürlichen frei, wenn man sie nur unbegrenzt sich selbst überließe. 

            So kommt es mir manchmal vor. 

            Weils Gedanke ist der, dass der Mensch das göttliche Brot dann erhält, wenn es ihm flüchtig gelingt, die natürliche Inflation des eigenen Egos zu unterbinden, und er es lassen kann, den Raum mit der eigenen Essenz zu füllen – dann übt er Verzicht, und schlussendlich die eigene Dekreierung vor Gott, der den Raum stattdessen mit seinem Licht durchflutet. Ein ehrenswerter, idealistischer und vorallem selbstloser Ansatz, der jedoch grade in einem so großen, offenen Raum wie Voi, Kenia, absolut unrealistisch ist.

            Meine Seele diffundiert, unkontrolliert, unhaltbar. Mit jedem Windstoß fließt sie in eine größere Schale und nachts zieht mich die Schwerkraft der Sterne in alle Richtungen. So frei war ich noch nie, und doch so geborgen – als würde mein Geist im Traum ausfliegen, während ich in der Wärme meines Bettes liege. Was von mir übrig bleibt, in der Mitte? Wer will das bestimmen. Es ist nicht viel mehr als das zentrische Knäuel meiner Existenz. Das was weiterhin aus sich heraus leuchtet, wenn man all die angeklebten identitären Schichten abmontiert, die bedingt sind durch das, was ich habe, und das, was ich tue. Momente des Stillstandes eben, mitten im Fluss.

Es ist Regenzeit in Kenia. Für mich ist auch sie Ausdruck einer maßlosen Willkür, und doch wird das unbezwingbare Kommen und Gehen des Regens mit solcher Dankbarkeit empfangen. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.Und so ist auch der Fluss meiner Tage – mal reißend, mal trocken, mal gleichzeitig in beide Richtungen fließend. Mein Paddeln könnte dabei keine unbedeutendere Rolle spielen, und doch bleibe ich über Wasser. Das Universum spricht mir vor und ich spreche nach: „Ich bin genug.“ Und ich darf diesen Platz einnehmen.

Mit dieser so minimalistischen und so wesentlichen Gewissheit – ja, Erfahrung –  meiner bedingungslosen Rechtfertigung, ist es in Ordnung, wenn sich die weiteren Lagen meiner Selbst wie Kleidungsstücke wechseln. Ich habe das Gefühl, in den letzten drei Monaten drei verschiedene Personen gewesen zu sein. Bis zur Schließung der Bible School Mitte November war meine Heimat die Schule – Mahlzeiten, Andachten, Aufstände, Lachanfälle, Sarah morgens Sarah abends. Am Tag nach der Abreise der Schüler*innen kam Nina, eine kanadische Ultraaktivistin und Freiwillige für ein lokales Umweltprojekt, und ich ließ mich in sie fallen. Gesprächsthemen, Sprache und Humor drehten sich um 180 Grad, und das ganze dann nochmal als ich über Weihnachten und Neujahr nach Tansania fuhr, um andere deutsche Freiwillige zu treffen (Kulturschock!) und mit Katharina in den Regenwald der Usambara Berge einzutauchen.

Seit dem sechsten Januar bin ich wieder zuhause in Voi, die Schule hat wieder offen, Nina ist noch da und ich fühle mich flüssig. Vereint, bereichert, und zugleich das reinste Zufallsprodukt. Langsam lerne ich, wie wirkungsvoll man sein kann ohne die Kontrolle zu besitzen, und ich möchte mir nie wieder einbilden, dass ich sie hätte. 

Besonders in der letzten Woche hatte ich das Gefühl, alle Kleidungsstücke mit einem Mal zu tragen. Doch sitze ich nachts auf dem Dach, diffundieren die Stoffe meiner Person mit jeder Stunde weiter von mir weg und ich spüre, ich bin vollständig mit nur Kenia auf meiner nackten Haut. Im innersten Kern bleibt nichts als die Freude darüber, dass ich lebe.

Allein die Gnade macht es möglich.

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