Eigentlich ist das schon fast Kunst

05.03.1441, 13:24 in Ägypten

23. Tag des Monats Paopi 1736, 13:24 in Anaphora (jetzt kommt auch der koptische Kalender dazu)

03.11.2019, 12:24 in Schleswig

Meine lieben Blogleser, long time no see!

Der letzte Blog ist jetzt über einen Monat alt und doch kommt es mir so vor, als hätte ich ihn letzte Woche erst geschrieben. Es ist hier teilweise schwierig, einen Moment abzupassen, in dem man freie Zeit und Energie gleichzeitig hat. Zum Glück habe ich diese Kombi heute und deshalb wird das auch direkt genutzt.

In den letzten Wochen habe ich viel darüber nachgedacht, was ich eigentlich in meinen ersten Blog aus Ägypten schreiben will. Um erstmal einen Überblick über meine Gedanken zu bekommen, habe ich dann angefangen, Tagebuch zu führen – mit dem Ergebnis, dass ich einzelne Erlebnisse als knappe Stichpunkte formulieren muss, damit alles in mein Notizbuch passt und damit ich nicht durch abstrakte Formulierungen diese Erlebnisse immer weiter in Worte fassen muss, weil man meistens gar keine Worte finden kann. Für mich persönlich ist dieses Notizbuch jetzt schon eine riesige Schatzkiste, die ich mit nach Deutschland nehmen darf, doch für meinen Blog hat es die Arbeit noch weiter erschwert… Eine schwierige Aufgabe also, da ich auf der einen Seite in mir drin zu wenig über meine Gedanken nachgedacht habe und da ich auf der anderen Seite auch nicht klischeehaft über Menschen berichten will, die ich erst seit kurzem kenne.

Zum Glück sind mir gerade meine Flipflops vor dem Bett ins Auge gesprungen. Meine Flipflops, die ich jeden Tag von 7:30, wenn ich zum Frühstück gehe, bis ca. 21:30 oder länger trage und für die ich auch schon bekannt bin, obwohl ich nicht der einzige bin, der Flipflops trägt. Dass sie mir aufgefallen sind, ist deshalb gut, weil sie der wohl typischste Bestandteil meines Alltags sind, was auf den ersten Blick auffällt. Alleine optisch haben sie so viel zu bieten, das ist fast schon Kunst.

Erstens sind sie sehr dreckig (weshalb ich hier kein Bild einblende J ) von den Unterschiedlichsten Situationen: Vielleicht ist es der Staub von dem Acker, auf dem William und ich herumgekraxelt sind, als wir lange, dicke Äste zum Bau unserer Enten- und Ziegenhäuser gesucht haben? Das ist nämlich eine der Arbeiten hier, die sich sehr lang ziehen, weil wir eigentlich immer nur dann weiterbauen können, wenn wir sonst keine anderen wichtigen Aufgaben erledigen sollen, sodass nach einem Monat Bauzeit erst 2 der 3 geplanten Häuser fertig sind. Allerdings ist das gar nicht so schlimm, da es auch keinen Spaß macht, mehrere Tage am Stück bei 35°C in der Sonne Bäume zu fällen oder diese Stämme dann im steinigen Boden einzugraben. Von Zeit zu Zeit ist es aber doch wieder schön, eigene Häuser mit den eigenen Händen zu bauen.

Vielleicht ist es auch Sand, der von den langen Spaziergängen stammt, die wir mit dem Schäferhund Troll machen, bevor wir sie füttern, weil sonst niemand so richtig für sie Zeit hat. Für uns ist sie aber ein richtiges Geschenk, weil wir auf den Spaziergängen schon echt viele neue Leute kennengelernt haben, ganz besonders zu Anfang, als wir eigentlich noch niemanden kannten. Und da wir so auch jeden Tag einen Grund haben, einmal das ganze Gelände abzulaufen, kennen wir jetzt die meisten Orte in den drei Bereichen Anaphoras: Zum einen ist da Anaphora selbst, wo sich der größte Teil des Klosterlebens abspielt und wo die meisten Tassounis (= Schwestern) und Abounas (=Väter), sowie die Freiwilligen und einige Tagesgäste leben. Hier wohnen, essen und arbeiten wir meistens. Außerdem sind hier auch immer die Morgenmeetings, in denen Platz ist für das globale Tagesgeschehen, das Wetter, die Planung der nächsten Tage und für die Meditation. Diese besteht darin, dass jeden Tag eine andere Person das „meditation-cross“ bekommt, wenn die Person, die es vorher hatte denkt, dass man bei der anderen Person mal Danke sagen muss oder wenn man der anderen Person eine Wertschätzung zeigen will. Am nächsten Tag geht dann das Kreuz wieder zu jemand anderem und so weiter. Ich persönlich finde diese Tradition sehr schön, weil diese kurze Geste vor allen Beteiligten eine große Bedeutung für die Person hat, die das Kreuz bekommt.

 Vielleicht ist da auch noch Matsch an den Flipflops, den wir in den tiefen Reifenspuren vor dem Amphitheater in Anaphora verteilt haben, als vor ein paar Wochen die French Party stattfand, bei der unterm Sternenhimmel ein französisch-ägyptisches Konzert und ein Festessen gegeben wurden, für das wir beim Aufbau, in der vollen, heißen und chaotischen Küche, beim Kellnern, und beim Abwaschen geackert haben.

Der zweite Bereich, den wir durch ein großes Eisentor betreten, ist „Anastasia“ mit einem großen Gästehaus und einigen Konferenzräumen, einer Bibliothek und weitläufigen Olivenfeldern, wo wir vor einigen Wochen bei der Ernte geholfen haben (da waren die Flipflops aber nicht am Start, sondern meine Stiefel, wegen der Schlangen und des Gestrüpps). Wie voll es hier werden kann, haben wir zweimal gemerkt, als große Konferenzen mit um und bei 300 Leuten hier waren, an einem Tag sogar der koptische Papst. Ein Foto, wo ich dem Papst die Hand schüttele können meine Flipflops jetzt gerade sehen. Bei beiden Konferenzen haben wir in der Küche gearbeitet, wo wir gezwungenermaßen Arabisch sprechen mussten, um überhaupt zu wissen, was unsere Aufgaben sind. Im Prinzip war das eigentlich das Beste, was uns passieren konnte, da wir echt schnell mit Learning-by-doing und unseren Arabischstunden bei einer Tassouni dazugelernt haben. Auch wenn ich mir noch ziemlich unbeholfen vorkomme und gefühlt immer nur die gleichen 10 wörter benutze, spreche ich doch schon in ganzen Sätzen, was mir eigentlich erst klar geworden ist, als ich letztens ein (kurzes) Gespräch am Telefon komplett und erfolgreich auf Arabisch geführt habe.

Hier in Anastasia findet auch nächstes Jahr wieder das Second-Chance-Programm statt, bei dem junge Ägypter, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Schule abgebrochen haben, in den Basics Unterricht bekommen, was sehr untypisch für Ägypten ist. Genauso untypisch ist auch die Rollenverteilung in Anaphora: Frauen dürfen klassische Männerberufe ausführen und andersherum – leider sonst ein No-Go. Alleine schon der Fakt, dass William und ich als Jungs in der Küche und danach auf dem Bau gearbeitet haben, ist außerhalb der Klostermauern unvorstellbar. Bestimmt ist hier auch nicht alles perfekt und im Alltag hat man auch hier eine ungewollte, und doch existierende, Trennung zwischen Männern und Frauen, doch empfinde ich Anaphora als einen sehr guten Beitrag in Richtung Gleichberechtigung.

Der dritte Bereich ist mit zwei großen Toren abgesperrt und heißt „Anamnesia“. Hier sind noch einmal große Felder mit Oliven-, Feigen- und Mangobäumen, sowie die Auferstehungskirche, in der seit Jahren Wandgemälde geschaffen werden. Hier durften wir beide uns auch bereits mit einigen Fischen verewigen, die Teil einer ganzen Wand sind, die am Ende komplett voll mit Fischen sein wird, so unterschiedlich gemalt, wie die unterschiedlichen Leute, die hier ihren Teil dazu beigetragen haben.

Außerdem sind die Flipflops immer noch voll mit weißer Wandfarbe vom Streichen der Gästehäuser und der Kirche in Anaphora vor zwei Wochen (die Arbeitskleidung sieht aber immer noch um einiges schlimmer aus…) Begleitet von jeder Menge süßem Tee, guter Musik und einem sehr sympathischen Franzosen war das eigentlich eine der besten Aufgaben bis jetzt und wieder ein Projekt mit vielen anderen Ägyptern, die uns im Minutentakt an unsere sprachlichen Grenzen brachten (zum Glück!). So konnten wir nicht nur unsere Arabisch-Skills verbessern, sondern jetzt sind wir auch vorbereitet auf jegliche Renovierungen in WG-Zimmern, wo wir dann aber lieber nicht Steckdosen und Lichtschalter übermalen, wie es hier normal scheint.

Möglicherweise ist auch das eine oder andere Haar von meiner Katze daran, die ich jetzt seit vier Wochen habe und die so anhänglich, wie hungrig ist. Und vielleicht ist auch etwas Essigsäure an ihnen festzustellen, die wir für die Poolreinigung benutzen. Liebe Blogleser, seid froh, dass ich keine Gerüche herübersenden kann, denn Essigsäure ist nicht unbedingt das höchste der Gefühle und nach einem Monat riechen die Klamotten immer noch… Generell sind Gerüche hier ganz anders als Zuhause, wo man alle möglichen Putzmittel zur Beseitigung da hat und wo man nach dem Duschen riecht wie ein Obstsalat. Hier ist eigentlich gar nichts so schön geruchsneutral, wie in vielen deutschen, klinisch reinen Haushalten. Gleichzeitig wird alles sehr schnell dreckig, staubig und bleicht in der Sonne aus. Ich glaube in meinem Zimmer gibt es nichts, was nicht staubig ist, aber zum Saubermachen habe ich meistens keine Zeit oder es wäre einfach sinnlos, weil nichts lange sauber bleibt. Bunte Stoffe bleiben nicht lange farbenfroh und alles aus Plastik wird spröde bis man es wegwirft. Meiner Meinung nach ist es wirklich wertvoll, zu realisieren, dass nicht alles für die Ewigkeit gemacht ist und dass nicht jeder Fleck rausgewaschen werden kann. Und jetzt? Dann zieht man eben das an, was vielleicht fleckig ist oder irgendwo ein Löchlein hat. So what? Wen interessiert das denn? Und wenn man es dann doch komplett aufgetragen hat, kann bestimmt etwas daraus gefertigt werden, wenn es nach den Arbeitern in der Werkstatt „Arofana“ („Anaphora“ rückwärts 😉 ) geht, die sich um das Recycling von allen möglichen Dingen kümmern (im Idealfall) Wenn das Shirt noch gut, aber vielleicht nicht mehr `in` ist, kann man es im Second-Hand-Laden loswerden.

Leider bekommen meine Flipflops nie etwas von den spannenden Tagen in Kairo mit, wenn wir dort für unser Visum oder für Ausflüge sind, aber dazu muss ich eigentlich einen eigenen Blog schreiben. Aber zum Glück kriegen sie jeden Tag und jede unerwartete Wendung mit, die hier so passieren, denn eigentlich ist immer irgendwas Ungeplantes los, was ich am Leben in Anaphora extrem schätze. Es gibt immer neue Gespräche mit Gästen aus Ägypten, Frankreich, Norwegen, Schweden, Finnland,… oder spontane Pläne nach unerwarteten Anrufen von einer Tassouni oder von den amerikanischen Freiwilligen. Dann steht man plötzlich mit den anderen Arbeitern auf der Fußball-Wiese, hilft beim Waschen der Teppiche im Pool, wird unerwartet zum Curry-Dinner eingeladen oder fährt spontan für die SIM-Karte zur Mall, nachdem es heißt „oh, in 10 Minuten geht’s nach Kairo“. Vielleicht ist nicht immer die Qualität der Lebensstandards sehr besonders, aber die Qualität des Lebens ist wahnsinnig hoch.

Shukran, ya Anafura

Mit diesen ersten Eindrücken möchte ich den zweiten Blog beenden und ich hoffe, dass der dritte schon bald folgt. Ich hab große Lust, auch über Dinge außerhalb von Anaphora zu schreiben oder über die Landwirtschaft hier, die ich als Kind vom Dorf doch ziemlich interessant finde.

Liebe Grüße, dahin, wo auch immer Ihr gerade auf diesem Planeten seid 🙂

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