Ein Moment, der hängen bleibt (08.11.2019)

Ich sitze wie angewurzelt, schaue rüber zu meiner Kollegin neben mir. Passiert das hier gerade wirklich? Ich will ja etwas tun, aber was soll ich tun, was kann ich tun? Am Ende bin ich ja dann doch nur ein gerade einmal 18-jähriger, der kaum die Landessprache spricht.

Aber fangen wir von vorne an! Mitte Oktober werden alle deutschen Freiwilligen in die Hauptstadt der Region, nach Lanzhou, eingeladen. Hier soll ein erster Austausch der bisherigen Erfahrungen mit Schülern und Umfeld erfolgen. In der Tat ist die Freude beim Wiedersehen groß. Wir reden über unsere Erfahrungen und Erlebnisse in Einsatzstelle und Urlaub. Abends besuchen wir dann die lokalen Bars und lassen bei chinesischem Bier und Sonnenblumenkernen den Abend ausklingen. Aber nicht nur der Austausch ist Anlass für das Treffen in Lanzhou. Am zweiten Tag des Seminars treffen wir den Vorsitzenden des Bildungsministerium der Region Gansu, die – nur zur Einordnung – größer als Deutschland ist. Von ihm und seinen Mitarbeitern werden wir in ein teures Restaurant eingeladen und bekommen feinste Fleischspezialitäten serviert. Blöd nur, dass von uns zwölf Freiwilligen neun vegetarisch leben. Nach dem gemeinsamen Essen und der traditionellen gegenseitigen Ehrerweisung begleitet uns eine Mitarbeiterin des Ministeriums in ein brandneues Museum. In diesem werden mit allerlei zukunftsorientierter Technik viele Höhlen, sowie Gemälde und ganze Tempelanlagen der weit im Norden der Provinz liegenden Wüstenstadt Dunchuan nachgestellt und mit 3D Druckern und „Augumented Reality“(Die Möglichkeit durch eine spezielle Brille Hologramme im Raum erscheinen zu lassen) zum Leben erweckt. Erneut zeigt man uns stolz, wie viel Geld China in die Zukunft steckt. Natürlich lassen wir den Führern im Museum durch gelegentliches staunen und „Ah“s und „Oh“s zu verstehen geben, wie fasziniert wir sind. Denn wenn wir in den letzten Monaten etwas gelernt haben, dann das, dass Chinesen es lieben, wenn man sie und das, was sie tun bewundert! Bevor wir dann schließlich die Heimfahrt antreten, bekommen wir noch einen „Touristen-Pass“, eine Art VIP-Pass geschenkt, mit dem wir in die meisten Sehenswürdigkeiten der Provinz gratis oder zumindest vergünstigt hineinkommen, gültig bis zu unserem Heimflug. Natürlich beginnen dann schon im Bus – auf dem Weg zurück nach WenXian – die nächsten Planungen für zukünftige Wochenendtrips.

In WenXian angekommen, ist es dann so weit: Der dauerhaft kühle Wind in den Bergen, der schon eine Erkältung verursacht hatte, haut mich schließlich völlig um. Hustend sitze ich also für eine Woche in meinem Zimmer herum und verlasse dieses nur zum Unterrichten und zum Essen. Nachdem ich mich zunächst noch gegen einen Arztbesuch sträube, überzeugt mich dann schließlich eine befreundete Englischlehrerin, nachdem auch stetiges Teetrinken keine Wirkung zu zeigen scheint. Sie bringt mich zum Arzt ihrer 10-jährigen Tochter (Ich glaube, es war ein Kinderarzt…). Gemeinsam warten wir im Flur des Krankenhauses darauf, dass meine Nummer aufgerufen wird. Dabei beobachten wir direkt gegenüber die Tür des Arztes zur Blutabnahme für Kinder. Eine Krankenschwester nimmt den kleinen Kindern Blut an ihren Händen ab, um es dann testen zu lassen. Schließlich ist ein 10-jähriger Junge an der Reihe und scheint nicht allzu begeistert davon zu sein. Nachdem sein Vater ihn harsch am Arm packt, sage ich schon scherzhaft zu meiner Kollegin, dass sowas in Deutschland wahrscheinlich schon ein Problem darstellen könnte. Als der Junge dann aber partout nicht einlenken will, fängt der Vater plötzlich an, ihn aufs Wildeste in die Kniekehlen zu treten, Backpfeifen zu verteilen und ihm Schläge in den Bauch zu verpassen. Als auch das nicht zu helfen scheint, setzt er sich schließlich auf seinen Sohn und fixiert ihn auf dem Flurboden, sodass die Krankenschwester hinter der Theke „endlich“ vorkommen kann, um dem kreischenden und heulenden Jungen das Blut abzunehmen.

Ich beobachte das ganze Geschehen, was direkt zu meinen Füßen geschieht. In meinem Kopf kreisen in diesem Moment so viele Gedanken. Soll ich eingreifen? Aber was soll ich denn sagen? Der Mann versteht höchstwahrscheinlich auch kein Englisch. Ich schaue zu meiner Kollegin, aber sie scheint überfordert zu sein und schaut einfach zu, ebenso wie die vielen anderen Eltern, die mit ihren Kleinkindern den Vorfall beobachten. Da stehen Familienväter, die eingreifen könnten, aber nichts geschieht. Niemand sagt auch nur ein Wort. Nein, die Krankenschwester, eine Frau, die den ganzen Tag mit Kindern arbeitet, macht sogar mit und duldet die Tatsache, dass der Vater seinen Sohn eindeutig körperlich einschüchtert. Schließlich ist der Spuk vorbei, nachdem der Vater, der sich offenbar in seiner Ehre gekränkt fühlt, seinen Sohn einfach auf dem Boden zurücklässt. Wir helfen dem Jungen auf und geben ihm ein Taschentuch, damit er sein Nasenbluten stoppen kann.

Dass in meiner Schule der ein oder andere Lehrer das Lineal nicht nur zum Ausmessen an der Tafel nutzt, habe ich inzwischen mitbekommen, aber das ist ein anderes Ausmaß. Ich möchte mir in diesem Moment gar nicht ausmalen, was der Junge Zuhause ertragen muss. Aber das Schlagen als Erziehungsmethode ist in China nicht verboten. So ist es kein Wunder, dass viele meiner männlichen Schüler in einer „Halloween“-Stunde auf die Frage, wovor sie Angst haben, ihren Vater angeben. Ich habe in meinem engstirnigen Denken eigentlich Antworten wie „Spinne“ oder „Schlange“ erwartet. Eins weiß ich aber auf jeden Fall: So schnell bekomme ich dieses Bild nicht aus dem Kopf.

Dann ist meine Nummer dran und ich gehe ins Arztzimmer. Der Arzt verschreibt mir schließlich zwei verschiedene Pillen und zwei spezielle Tees, die ich dreimal am Tag einnehme. Und tatsächlich zeigt sich eine schnelle Wirkung. So kann ich letzte Woche auch das erste Mal wieder mit meinem Mitfreiwilligen Jona Wandern gehen. Gemeinsam besteigen wir einen naheliegenden Berg und besuchen auf dessen Spitze einen kleinen Tempel. Die Aussicht auf Berglandschaft und Stadt sind dabei atemberaubend. Wie gerne würde ich doch mal Rotenburg so von oben sehen und das bunte Treiben in den Straßen beobachten wie ich es hier kann.

Eben in solchen Momenten des Innehaltens fällt mir ein um das andere Mal auf, wie schnell doch die Zeit an mir vorbeifliegt.

Nachdem nun auch Halloween hinter uns liegt, dachte ich, dass bis Weihnachten nur noch regulärer Unterricht für mich ansteht. Aber nein, nachdem mir ein Schüler am Freitag erzählt, dass er die nächste Woche Tests schreibt und ich nachfrage, wird auch mir dann mal mitgeteilt, dass ich von Mittwoch bis Sonntag nicht zu unterrichten habe, da eine Woche lang Tests geschrieben würden.

Nun habe ich auf die Schnelle noch einen kleinen Urlaub mit Jona geplant, sodass wir doch noch ein kleines Abenteuer erleben können. Dabei benutze ich das erste Mal Couchsurfing, eine App für das eigene Handy über die Nutzer kostenlos ihr Sofa oder auch ein Zimmer für Fremde anbieten. Somit verbringen wir drei Nächte bei einer jungen Chinesin und verbringen mit ihr hoffentlich ein paar schöne Tage in der fünf Stunden entfernten Stadt Guangyuan. Aber dazu dann ein anderes Mal mehr!

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