Gedanken zur Zeit: Licht über Licht

Die dunkle Jahreszeit beginnt. Die Tage werden kürzer und die Nächte länger. Um die Dunkelheit erträglich zu machen, zünden wir Kerzen an. Ihre Lichter erhellen unsere Häuser und Wohnungen. Und mehr noch: Ihr heller Schein drückt aus, dass die Dunkelheit nicht alles umfasst, sondern begrenzt ist vom Licht als Zeichen des neuen Lebens.

Die heiligen Schriften des Judentums, Christentums und Islams sind voller Bilder, in denen Licht für den Wunsch steht, dass nicht Angst und Tod das letzte Wort haben mögen, sondern Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit.

Lampen, Foto: mailanmaik, pixabay

Auf den ersten Blick scheint die Lichtsymbolik völlig klar zu sein: Alles soll und kann zum Licht hinstreben und sich damit verbinden. Wenn in der Osternacht die brennende Kerze in die dunkle Kirche hineingetragen wird, feiert die christliche Gemeinde den Sieg Gottes über den Tod. Das Licht als Bild des Lebens wird dabei auf die Gläubigen übertragen: Sie selbst sollen Kinder des Lichts werden und darin Gottes Lob verkünden. (Eph 5,7)

Blickt man allerdings genauer hin, wird auch im Lichtbild Vieldeutigkeit sichtbar. Licht ist nicht eindeutig, sondern tritt in verschiedenen Abstufungen auf. Die vermeintliche Klarheit des Lichts ist nur eine scheinbare. Bei näherer Betrachtung entzieht sie sich jeder vorschnellen Vereinnahmung.

Die spannungsreiche und zum Teil verstörende Seite des Lichts zeigt sich beispielhaft in dem „Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen“ (Mt 25). Es ist Predigttext für den Ewigkeitssonntag Ende November. In dem Gleichnis wird das Himmelreich mit Bräuten verglichen, die ihre Lampen nehmen und ihrem Bräutigam entgegengehen. Allerdings nimmt nur die Hälfte von ihnen zusätzlich etwas Öl in einem Krug mit. Als sich der Bräutigam verspätet und die Frauen einschlafen, gehen ihre Lampen aus. Nur diejenigen, die an das Öl gedacht haben, können sie wieder anzünden. Als die anderen etwas von dem Öl abhaben wollen, lehnen sie ab. Diejenigen, deren Lampen nicht mehr leuchten, werden daraufhin vom Hochzeitsfest ausgeschlossen.

In diesem Gleichnis wird die abgründige Seite der Lichtsymbolik sichtbar. Ohne Licht ist das Leben in Gefahr. Und zwar für alle, die nicht aufpassen, sondern in ihrer Verantwortung auch mal nachlassen.

Im Koran treffen wir auf eine Reflektion des biblischen Bildes der Öllampen mit einer neuen, hoffnungsvollen Deutung. Sie liest sich wie ein Kommentar auf das Evangelium. Damit leitet sie zu einem Verständnis der drei abrahamitischen Religionen als eine Sinngemeinschaft an, die ihre jeweilige Aktualisierung der göttlichen Offenbarung zum Wohl aller in das gemeinsame, religionsübergreifende Gespräch einbringen kann.

In der entsprechenden Sure 24, Vers 35 mit dem berühmten Namen Lichtvers heißt es: „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichtes ist sozusagen das einer Nische, die eine Lampe enthält; die Lampe ist in Glas (eingeschlossen), das Glas (leuchtend) wie ein strahlender Stern: (eine Lampe) entzündet von einem gesegneten Olivenbaum, der weder vom Osten noch vom Westen ist –, dessen Öl (ist so hell, dass es) beinah (von sich aus) Licht geben würde, selbst wenn das Feuer es nicht berührt hätte: Licht über Licht! Gott leitet zu Seinem Licht, wer (geleitet werden) will“. (Übersetzung: Muhammad Asad)

Die erste hilfreiche Reflektion besteht darin, dass Gott hier zwar wie das Licht erscheint – ohne damit identifiziert zu werden. Für das Gleichnis von den zehn Jungfrauen könnte das heißen: Keine menschliche Auslegung des Gleichnisses kann für sich beanspruchen, den ganzen Sinn zu erfassen. Wer am Ende der Zeiten erlöst wird – egal, ob er oder sie an dem Hochzeitsfest teilgenommen hat –, liegt alleine in Gottes Hand.

Die zweite hilfreiche Reflektion besteht darin, niemals zu vergessen, dass die Lampe nicht von sich aus brennt – weder in den Versen des Korans noch im Gleichnis des Evangeliums. So wie jede Offenbarung von Gott ausgeht, so ist jede Lampe nur ein Gefäß, in das Gott sich selbst einträgt. In biblischen Worten ausgedrückt ist es der Heilige Geist, der in den Menschen den Glauben weckt. Der Islam würde an dieser Stelle vom Verstand sprechen, durch den wahrer Glaube seinen Weg in das Herz der Menschen findet.

Und schließlich die dritte Reflektion: Das Öl, das in den Lampen brennt, kommt von einem Baum, der – laut Koran – „weder vom Osten noch vom Westen ist“. Darin drückt sich aus, dass alle göttlichen Offenbarungen von der Wurzel eines Baumes ausgehen und durch dessen Früchte erlebbar werden. Auch wenn sich im Verlauf der spirituellen Geschichte der Menschheit dieser Baum zu einer großen religiösen Vielstimmigkeit verzweigt hat, so wurzelt er doch in Gottes Existenz und Einzigartigkeit.

Die drei Reflektionen leiten dazu an, nicht zu viel aus den Texten von Bibel und Koran herauszulesen, sondern sich stattdessen in sie hineinzulesen. Sie erschließen sich nicht zwangsläufig dadurch, dass sie bis in alle Tiefen hinein verstanden werden. Gerade die Lichtsymbolik kann auch dadurch wirken, dass sie unsere menschlichen Versuche kritisch ausleuchtet, auf alles sofort eine Antwort zu haben und dadurch Gefahr zu laufen, Gottes Stimme in den Hintergrund zu drängen.

Dorothea Sölle hat dieses Verständnis heiliger Texte in einem Gedicht auf den Punkt gebracht: „Eine afrikanische Frau / auf einer Konferenz befragt, / warum sie denn immer die Bibel lese, / es gäbe doch so viele Bücher, / sie könne doch nun lesen und schreiben, / gab, in die Enge getrieben, / schließlich die Antwort: / ‚Ich lese doch gar nicht. / Die Bibel liest mich.‘“ (D. Sölle: Ein Fenster der Verwundbarkeit)

Licht ist Leben. Aber Licht befreit uns nicht davon, dass wir in Spannungen leben. Es ist unsere Aufgabe als Gläubige des Einen Gottes, die uns aufgegeben Herausforderungen so zu gestalten, dass sie nicht nur unserem Wohl oder dem Wohl unserer religiösen Gemeinschaft dienen, sondern allen Menschen zugutekommen. Auf diese Weise können wir den Menschen Achtung und Gott die Ehre geben.

Dr. Sönke Lorberg-Fehring