Bergkarabach: Hanna Lehming im Gespräch mit Hratsch Biliciyan

Pfarrer Hratsch Biliciyan ist zuständig für alle in Norddeutschland lebenden Armenierinnen und Armenier zwischen Flensburg und Bielefeld. Pastorin Hanna Lehming, Mittelost-Referentin, hat ihn gefragt, wie es seinen Gemeindemitgliedern nach dem Ende des blutigen Konflikts geht.

HL: Lieber Herr Pfarrer Biliciyan, wie geht es Ihren Gemeindemitgliedern und was beschäftigt sie jetzt besonders?

Pfarrer Hratsch Biliciyan

HB: Wir sind vor allem damit beschäftigt, die armenischen Flüchtlinge zu unterstützen. So gut wie jeder von uns hat Familienangehörige 1. Grades in Armenien, Schwestern, Brüder, Großeltern. Weihnachten steht vor der Tür. Wir Armenier feiern wir das Fest am 5. und 6. Januar. Unsere Gedanken kreisen ständig um die armenischen Flüchtlinge.

HL: Wie funktioniert die Flüchtlingshilfe?

HB: Über die Kirchengemeinden in Armenien und ihren Sozialdienst. Das Zentrum unserer Kirche St. Etschmiadzin hat die Flüchtlinge aufgenommen und registriert und sorgt dafür, dass alle ein Dach über dem Kopf haben, z. B. im Priesterseminar, bei Verwandten oder in einem Feriencamp der Kirche. Kleidung wird gespendet. Aber die Menschen haben kein Geld für Lebensmittel. Unser Kirchenzentrum in Armenien hat daher die Aktion einer Familienpatenschaft ins Leben gerufen. Unsere Diözese in Deutschland hat Patenschaften für 50 Familien übernommen. Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben und nicht nach Berg-Karabach zurückkehren können, werden durch diese Hilfsaktion zwischen Dezember und März mit Lebensmitteln und Hygieneartikel versorgt sowie mit Heizung und Strom.

HL: Ist die Hilfe zuverlässig gewährleistet?

HB: Ja, es ist alles völlig transparent. Meine Familie beteiligt sich auch an der Aktion, indem wir die Versorgung einer Flüchtlingsfamilie übernommen haben.

HL: Wie ist die Stimmung in Ihren Gemeinden?

HB: Ich sehe nicht mehr so viel Lächeln auf den Gesichtern. Es wird ein Weihnachtsfest in gedrückter Stimmung werden, vor allem wegen der vielen Toten. Unsere Gedanken sind auch bei den Trauernden. Fast alle Getöteten sind junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren. Manche Familien sind doppelt betroffen, haben nicht nur Söhne, sondern auch Ehemänner oder Väter verloren.

HL: Haben Sie selbst Freunde und Bekannte unter den Betroffenen?

HB: Ich war mit einem Freund gemeinsam im Priesterseminar, dessen Bruder getötet wurde. Er war auch Priester. Nun ist seine Frau mit den kleinen Kindern alleine. Vor 30 Jahren hat die Familie Dasselbe schon einmal erlebt. Da kam der Vater des jungen Mannes bei Kämpfen ums Leben und hinterließ seine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn.

HL: Haben denn auch Priester an den Kriegshandlungen aktiv teilgenommen?

HB: Nein, nicht als Kämpfer, aber als geistlicher Beistand für die vor allem jungen Soldaten. Sie haben übrigens auch noch viele Armenier getauft.

HL: Warum das? Sind nicht alle Armenier als Kinder getauft worden?

HB: Die älteren Armenier sind teils in der Sowjetunion groß geworden. Sie hatten nicht viel Ahnung von ihrem Glauben und haben ihre Kinder manchmal nicht taufen lassen. Aber den jungen Männern, die wussten, dass sie sterben könnten, war das wichtig.

HL: Was hören Sie aus Bergkarabach und Armenien?

HB: Die in Bergkarabach verbliebenen Armenier fühlen sich unsicher. Nicht nur, dass sie jetzt von Armenien nahezu abgeschnitten sind und auf den Schutz russischer Truppen angewiesen. Sie haben das Gefühl, dass ihr Existenzrecht als armenisches Volk bedroht ist. Jetzt werden Kirchen und Klöster zerstört, armenische Friedhöfe geschändet und dem Erdboden gleichgemacht. Land erobern war vielleicht gar nicht die Hauptsache in diesem Krieg. Es geht darum, so denken viele bei uns, die Erinnerung an das Armeniertum gänzlich auszulöschen. Dass die Türkei in diesem Krieg so involviert war, löst bei uns eine alte Erinnerung und panische Angst aus.

HL: Was würde den Menschen in Bergkarabach und Armenien Ihrer Meinung nach helfen?

HB: Dass der französische Senat gerade für eine Anerkennung der Republik Bergkarabach (Arzach) durch die französische Regierung votiert hat, das gibt Mut und Hoffnung. Aber in Frankreich leben eben auch eine halbe Millionen Armenier, in Deutschland nur etwa 80.000. Wir haben hier keine Stimme. Wenn ich mit meinen Priesterkollegen in Armenien telefoniere, dann sagen sie mir: „Betet für uns.“ Ihre Hoffnungslosigkeit behalten sie für sich, um ihre Gemeinden nicht zu belasten. Stattdessen helfen sie praktisch und machen Mut.

Zum Hintergrund:

Bergkarabach ist eine seit der Antike mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region im Kaukasus. Umstritten zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde Bergkarabach 1923 per Dekret ein Autonomes Gebiet der Aserbaidschanischen SSR. Der Konflikt, in dem auch Interessen umliegender Staaten wie Russland, Türkei und Iran eine große Rolle spielen, kam aber niemals wirklich zur Ruhe.

Der ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) fordert einen „dauerhaften Frieden auf der Basis von Gerechtigkeit und Menschenrechten“ für die Menschen in Bergkarabach.