Gedanken zur Zeit im April 2022: das Leid, der Krieg und das Gebet

Zur Abwehr des Bösen: Traditioneller Beschlag einer Haustür in Turin/Italien mit einem Teufelskopf. Foto: www.adpic.de

In der Kirche suchen wir oft nach Lösungen. Dafür nehmen wir die Bibel zu Hilfe und lesen die hellen, hoffnungsvollen und lebensbejahenden Geschichten, wie Jesus den Sturm stillt, Streit schlichtet und Krankheiten heilt. Dabei berufen wir uns auf die Aussage: „Gott ist die Liebe“. Gott will das Gute und überwindet das Böse. 

Der Krieg in der Ukraine führt uns allerdings gerade vor allem die dunkle Seite des Lebens vor Augen: Unschuldige Menschen sterben. Raketen werden auf Krankenhäuser und Theater geschossen werden. Kinder sterben. Auch diese Seite findet sich in der Bibel: in den dunklen Stellen, in denen Gott Leid zulässt, Tod nicht verhindert und Lügen belohnt. Wieso lässt Gott die dunkle Seite zu? Wieso greift er nicht ein? In unzähligen Gebeten flehen Menschen immer wieder, dass Gott Frieden schenken möge, dass die Gewalt ein Ende habe und Einsicht in die Sinnlosigkeit des Krieges wachse. Doch das Morden geht weiter: in der Ukraine, im Jemen, im Südsudan, in Syrien und an vielen anderen Orten dieser Welt.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat für die Frage, wie Gott Leid zulassen kann, das Kunstwort Theodizee geschaffen. Es stammt vom griechischen „Theos“ für Gott und „dike“ für Gerechtigkeit ab. Theodizee steht für die Frage, wie das Leid in der Welt damit vereinbart werden kann, dass Gläubige auf der ganzen Welt Gott als allmächtig und gut bekennen und anbeten?

Wenn wir auch weiterhin darauf vertrauen möchten, dass Gott die Liebe ist, brauchen wir Antworten auf die Frage, warum Gott die bestehenden Probleme in der Welt nicht löst: Entweder will Gott es nicht, obwohl er es könnte – dann ist er nicht gut. Oder er will es, kann es aber nicht – dann ist er nicht allmächtig. Oder er will es weder noch kann er es – dann ist er weder mächtig noch gut. 

Bibel und Koran bieten keine Lösung, sondern schildern eine Welt, in der wir auf Tröstung angewiesen sind

Das meiste Böse auf der Welt hat konkrete, menschengemachte Ursachen: Wie sollen aus Kindern liebevolle Erwachsene werden, wenn sie selbst schon früh Gewalt erleiden? Wie sollen gerechte gesellschaftliche Strukturen entstehen, wenn alleine das Recht des Stärkeren das Überleben sichert? Diese Fragen erklärten die Theodizee mit der Freiheit und den Lebensumständen des Menschen. Doch was ist mit Naturkatastrophen, Krankheiten und Seuchen?

Wer auf hierauf Antworten in der christlichen Tradition sucht, muss oftmals mit Erklärungen vorlieb nehmen, die heutzutage für viele kaum mehr zu ertragen sind. In dem berühmten Kirchenlied „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus dem 17. Jahrhundert wird alles Glück der Welt genauso wie das Leid als Gottes Wille aufgefasst: „Er ist mein Gott, der in der Not mich wohl weiß zu erhalten; drum lass ich ihn nur walten.“ (EG 372) Dietrich Bonhoeffer geht in seinem Gedicht „Von guten Mächten“ noch einen Schritt weiter und schreibt davon, Leid nicht nur zu ertragen, sondern anzunehmen: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebter Hand.“ (EG 65)

Narvid Kermani wählt in seinem neuen Buch „Fragen nach Gott“ einen anderen Weg. Dafür bricht er mit der Vorstellung, dass die Bibel – wie auch der Koran – Lösungsvorschläge anbietet: „Wir meinen, die Heiligen Schriften sagten uns, wie die Welt sein soll. Nein, sie stellen die Welt dar, wie sie ist, und zwar tiefgründiger, realistischer und mitunter brutaler, als wir es gern hätten.“ (S. 131) 

Auch Ratschläge sind Schläge, heißt es in der Seelsorge oft zugespitzt. Dasselbe gilt für alle Art von Lösungsvorschlägen, die über das Leid jedes Einzelnen hinweggehen. Deswegen bieten Bibel und Koran auch keine Lösungen, sondern schildern eine Welt, in welcher der Mensch auf Tröstung angewiesen ist. In ihren Schilderungen und Offenbarungen stellen sie sich an die Seite aller leidenden Menschen und halten mit ihnen gemeinsam Angst, Gewalt und Sinnlosigkeit aus. Sie trösten, ohne zu vertrösten. Das mag nicht viel erscheinen angesichts des Leides der Welt. Aber wer diesen Trost einmal erlebt hat, mag nicht mehr auf ihn verzichten.

Dr. Sönke Lorberg Fehring