Gedanken zur Zeit im Dezember 2022: Und siehe, wir leben!

Dieser Ausspruch des Apostels Paulus klingt wie eine Zumutung in diesen Zeiten. Wie können wir Christ*innen uns anmaßen, eine solche These in den Raum zu stellen, wenn die Welt um uns rum gefühlt oder auch ganz real in Flammen steht?

Wie können wir Optimismus predigen, wenn uns Klimakatastrophe, Kriege und gesellschaftliche Spaltungen zu zerreißen drohen? Diese Frage hat uns im Kirchenkreis Nordfriesland beschäftigt. Wir haben sie durchaus kontrovers diskutiert und dennoch fiel die Wahl des neuen Jahresmottos für das Jahr 2023 auf diese vier Worte des Apostels Paulus: Und siehe, wir leben!

Sicherlich stehen wir als Kirche immer wieder vor der Aufgabe, diesen Spagat hinzubekommen: Zwischen klarem Realitätssinn und sehnsüchtigem Hoffnungstrotz. Zwischen einem nüchternen Blick auf die Realität und dem Mut, immer mehr für möglich zu halten als uns vor Augen ist. Und dabei werden wir immer kritischer beäugt von denen, die mit der Institution Kirche ihre Probleme haben und das zu Recht.

Wir werden gesellschaftlich und medial daraufhin überprüft, ob wir meinen, was wir sagen. Ob wir leben, was wir predigen. Nur Worte zu verlieren, reicht heute nicht mehr. Ich finde das richtig. Auch in der Bibel ist das bereits eine klare Aussage: Wir müssen unsere Worte an unseren Taten messen lassen. Beides gehört zusammen. Es ist im Namen der verschiedenen Kirchen in der Vergangenheit zu viel Unheil geschehen durch Worte, oder durch Taten. Beides untrennbar zusammenzudenken, gehört also zu einem Heilungsprozess, den wir als auch als evangelische Kirche dringend offensiv befördern müssen.

Ist es in dieser Situation nicht tatsächlich riskant, auf so ein starkes Motto zu setzen: „Und siehe, wir leben!“? Ich glaube, es passt genau in diese Zeit, gerade weil es so wenig mit unserer Alltagswirklichkeit zu tun zu haben scheint. Denn genau darin besteht ja auch die Herausforderung für uns als Christ:innen. In all das, was wenig lebensdienlich scheint, was Angst macht und dem Tod näher ist als dem Leben, die Hoffnung eintragen. Eine christliche Sicht auf die Wirklichkeit bedeutet immer auch, über das Vorfindliche hinaus zu sehen, zu hoffen, zu glauben. Wir geben uns nicht mit dem Status quo zufrieden. Wir finden uns nicht ab mit ungerechten Verhältnissen. Und das alles, weil wir uns an dem orientieren, der das auf ziemlich radikale Weise vorgelebt hat. Jesus von Nazareth. Er hat Erwartungen an ihn nicht nur durchkreuzt, er hat gesellschaftliche Erwartungen auch enttäuscht. Er hat einen kompletten Perspektivwechsel vollzogen und die, die am Rand stehen, in die Mitte geholt und denen Gehör geschenkt, die noch nicht mal wussten, dass sie selbst es wert sind eine Stimme zu haben.

Wie aber können wir diese spezifische Wirklichkeitssicht in unsere heutigen gesellschaftlichen und politischen Debatten eintragen, ohne bodenlos naiv oder aber moralisch belehrend zu wirken? Wie können wir unsere Werte in Diskurse eintragen, in denen Leistungsoptimierung und Profit die eigentliche Messlatte sind?

Ich glaube, dass das gar nicht so schwer ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Weil eben Worte und Taten zusammengehören. Weil die Taten nicht im Großen, sondern vor allem auch im Kleinen zu finden sind. Der Nachbarin, die viel allein ist, ein paar Minuten Zeit schenken. Dem traurigen Jungen ein tröstendes Wort. Dem Sterbenden die Hand halten. Schon dort, im Alltäglichen, bricht sich die Hoffnung Bahn. Ist das Leben stärker als der Tod. Schon dort gilt: „Und siehe, wir leben!“

2 Kor 6:
In allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben!


Nora Steen, theologische Leitung im Christian Jensen Kolleg in Breklum