Gedanken zur Zeit im Februar 2022: Neue Schritte wagen

Das Vertrauen der Menschen in Deutschland zu den christlichen Kirchen nimmt rapide ab. Nach einer Forsa-Umfrage zum Jahreswechsel 2021/22 unter 4038 Menschen haben lediglich 12 Prozent großes Vertrauen zur katholischen Kirche. Die evangelische Kirche kommt noch auf 33 Prozent. Dem Zentralrat der Juden bringen 43 Prozent Vertrauen entgegen, dem Islam dagegen nur 8 Prozent.

Wie kann das sein? Ein zentraler Grund für den erdrutschartigen Vertrauensverlust auf katholischer Seite sind ganz sicher die Missbrauchsskandale und der Umgang katholischer Würdenträger damit. Auf evangelischer Seite erlebe ich oft ein verzweifeltes Kopfschütteln und die Frage: Wie viel bleibt davon bei uns hängen? Dabei wird übersehen, dass das Ausnutzen von Vertrauen kein speziell katholisches Problem ist. Es ist eine Herausforderung für alle Institutionen, die Beziehungsarbeit leisten und dabei auf Vertrauen setzen – und dieses dann missbrauchen.

Foto: Rudy and Peter Skitterians, pixabay

Die evangelische Kirche versucht zunehmend, neue Vertrauenskanäle aufzubauen, die solchen Missbrauch ausschließen. Dazu passt sie ihre Formate unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen an. Events und Social Media sind wichtige Bausteine in dieser Strategie – bleibendes Vertrauen in die Institution Kirche bildet sich dabei aber offenbar nur partiell. Junge Freiwillige aus unseren indischen und afrikanischen Partnerkirchen melden uns zurück, was sie an dieser Strategie irritiert: „Bei uns gehen am Sonntag alle in die Kirche – unsere Eltern fragen uns nicht, ob wir Lust haben, wir gehen einfach alle hin – Ihr macht hier Extra-Gottesdienste für Jugendliche, dann ist es doch kein Wunder, dass niemand sich bei den normalen Gottesdiensten kein Jugendlicher eingeladen fühlt.“

Ist es das? Brauchen wir eine Art „Zwangsgewöhnung“ an kirchliche Traditionen, um in ihnen irgendwann Geborgenheit zu empfinden und Vertrauen zu ihnen zu entwickeln? Brauchen wir die Konzentration auf eine gemeinsame gottesdienstliche „Mitte“, um wieder eine große Gemeinschaft zu werden? Müssen wir nur endlich das richtige Veranstaltungs-Format finden, um den Vertrauensverlust umzukehren?

Ja und Nein. Ich glaube nicht, dass die Erfahrung aus indischen und afrikanischen Kontexten eins zu eins auf uns hier und heute übertragen werden kann. Die Begründung: Weil die Eltern es machen, mache ich es auch, trägt in westeuropäischen Gesellschaft nicht. Dafür hat die Ausprägung der eigenen Individualität einen zu großen Wert. Ich glaube aber, dass es uns in unserer jeweils sehr eigenen Ausprägung gut tun würde, mehr voneinander zu erfahren. Und mehr noch: Ich bin überzeugt davon, dass es ein großes Interesse daran gibt, Erfahrungen zu teilen und auszutauschen.

Ich glaube nach wie vor, dass eine große Überzeugung davon ausgeht, Menschen zu erleben, die authentisch für das stehen, was sie glauben. Deswegen sollten wir uns öfter gegenseitig fragen: Was glaubst Du eigentlich? Dieses Interesse füreinander könnte der Beginn eines neuen Miteinanders sein. Was braucht es dazu?

Erstens sollten wir unserem eigenen Zugang zum Glauben treu sein – ohne ihn absolut zu setzen. Deswegen braucht es zweitens Demut vor dem Glauben anderer. Demut ist ein scheinbar veraltetes Wort. Aber es beschreibt sehr gut, worum es dabei geht: Gott ist immer größer als mein Meinen und Denken. Diese Einsicht sollte sich in meinem Handeln widerspiegeln. Drittens kann und darf ich darauf vertrauen, dass Verstehen möglich ist – auch wenn es oftmals auf den ersten Blick nicht danach aussieht. Viertens geht es darum, uns von anderen berühren zu lassen – konkret und im übertragenen Sinne. Denn nur so spüren wir unsere eigene Verletzlichkeit und die der anderen. Fünftens reicht es nicht aus, nur freundlich miteinander umzugehen. Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und uns gegenseitig Raum geben. Das Ziel muss sein, unser ‚Haus‘ so herzurichten, dass nicht nur wir selbst uns dort zuhause fühlen, sondern auch andere. Darin liegt die große Chance, dass aus dem Blick auf das Eigene eine neue Haltung zu anderen entsteht. Diese Haltung kann zum Grundstock eines neuen Vertrauens werden.

Ein muslimischer Bekannter teilte mit mir neulich seine Einschätzung mit, dass sich in Deutschland lebende Muslime religiöser definieren als viele Christen, weil sie von außen ständig mit ihrer Religion identifiziert werden. Dadurch wird Religiosität tagtäglich zu einer konkreten Erfahrung, zu der sie sich zwangsläufig verhalten müssen. Bei aller Schwierigkeit liegt darin auch die Chance, sich aktiv mit der eigenen Religion zu beschäftigen. Dadurch kann – und muss – ich selbst zur Akteurin und zum Akteur meines Glaubens werden und kann es keiner Intuition überlassen.

Für die Kirche läge darin die Chance, dass wir Gläubigen nicht länger nur hinnehmen, dass andere für uns definieren, was christlicher Glaube ist. Wir können, sollen und müssen selbst aktiv werden und uns darüber Gedanken machen, wie andere mich und meine Religion sehen. Auf diese Weise könnten aus schrecklichen Fehlern neue Wege hervorgehen.

Ich verbinde eine große Hoffnung mit der Frage: Was glaubst Du eigentlich? Durch das Thematisieren unseres persönlichen Glaubens und unserer religiösen Werte und Traditionen können wir uns selbst und andere neu kennen lernen. Und wir können dafür sorgen, dass sie in Zukunft so gestaltet sind, dass wir sie freudig und von Herzen andere einlade, sich in ihnen wohlzufühlen – ohne gleich einziehen zu müssen. Auf diese Weise können wir durch gemeinsames Feiern und Beten einander näher kommen und Beziehungen aufbauen. Das kann nur ein erster Schritt. Aber um selbst wieder Vertrauen in unseren Glauben, unsere Religion und unsere Kirche zu gewinnen, ist er unerlässlich.