Gedanken zur Zeit im Juni 2022: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“

Kriegerdenkmal in Straßburg

Eine der schönsten Sätze im Neuen Testament ist zugleich einer der ambivalentesten. In Joh 8,32 spricht Jesus: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Der Satz ist in dem Lied „We Shall Overcome” als Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung weltberühmt geworden. Wie ambivalent die Berufung auf Wahrheit allerdings ist, ist im Fortgang des Johannesevangeliums selbst angelegt. In Vers 18,38 nämlich erwidert niemand anderes als Pontius Pilatus Jesus spöttisch: „Was ist Wahrheit?“

Russland begründet den Krieg gegen die Ukraine damit, dass das Land entnazifiziert werden müsse. Was für die meisten Menschen im Westen absurd klingt, weil der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst Jude ist, scheint für den russischen Außenminister Lawrow kein Problem zu sein. Im italienischen Fernsehen sagte er: „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.“ Keine Behauptung ist zu absurd und zu hässlich, als dass sie nicht von irgendwem gesagt und geglaubt werden könnte.

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, hat der amerikanische Senator Hiram Johnson 1914 gesagt. Offenbar gilt das heute noch – oder, was noch schrecklicher ist, es gilt immer und überall. Denn es gibt immer Menschen, die sich im Krieg wähnen und sich entsprechend verhalten.

Ein besonders krasses Beispiel dafür ist uns kürzlich in einem Kurs des Pastoralkollegs in Straßburg auf Schritt und Tritt begegnet. Dort war die Präsidentenwahl erst drei Wochen her und überall hingen noch Plakate. Eines der zentralen Themen war die Warnung vor dem „Grand replacement“ –in Deutschland bekannt als „Großer Austausch“.

Die Idee stammt von dem französischen Nationalisten Maurice Barres. 2011 wurde sie von Renaud Camus aufgegriffen. Bislang war sie vor allem in rechten Kreisen populär – die Wahl in Frankreich hat aber gezeigt, dass sie entweder viel mehr Anhänger*innen hat als bislang gedacht oder dass sich viele nicht daran stören und Parteien wählen, die sie offenen propagieren.

Die Idee des großen Austauschs besagt, dass führende Politiker*innen in einem gezielten Plan die weiße, christliche Bevölkerung in Europa durch Muslime austauschen wollen – notfalls mit Gewalt. Einer ihrer lautesten Vertreter ist Eric Zemmour, der in der französischen Wahl knapp hinter einer weiteren Vertreterin der Idee, Marine Le Pen, gelandet ist. Wie stark diese Phantasie um sich gegriffen hat, zeigt, dass auch die Vertreterin der konservativen Partei, Valérie Pécresse, sie vertritt. Im ersten und zweiten Wahlgang haben sich über 40% aller französischen Wahlberechtigten also für Politiker*innen entschieden, die meinen, Europa steht mitten in einem Krieg zwischen zuwandernden Muslimen und alteingesessenen Christen.

Wie konnte es soweit kommen? Was ist hier unsere Aufgabe als Christ*innen im Allgemeinen und als ZMÖ im Speziellen?

1946 hat Hermann Göring dem amerikanischem Psychologen G.M. Gilbert im Zuge der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gesagt: Natürlich will das Volk keinen Krieg. Warum sollte es auch, wenn das Beste ist, was die Beteiligten erreichen können, dass sie mit heilen Knochen zurückkommen? Deswegen muss man ihnen sagen, dass sie angegriffen werden. Gleichzeitig muss man den Pazifisten einen Mangel an Patriotismus vorwerfen und behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.

Als Christ*innen können, sollen und müssen wir uns diesem Trick verweigern. Ein erster, wichtiger Schritt ist, die russische Propaganda zurückzuweisen, dass der Ukrainekrieg in Wirklichkeit eine präventive Selbstverteidigung ist. Ein zweiter, ebenso wichtiger Schritt ist, allen radikalen Ideen entgegenzutreten, die besagten, dass Menschen, die bei uns Hilfe suchen, unseren Wohlstand bedrohen statt unsere Menschlichkeit bereichern.

Das ZMÖ ist für diese Aufgabe meiner Ansicht nach genau der richtige Ort, weil wir jeden Tag in unserer Arbeit Grenzen überschreiten, Netzwerke und knüpfen und danach suchen, was dem Leben dient – und zwar dem Leben aller und nicht nur einer kleinen, privilegierten Minderheit.

Dr. Sönke Lorberg Fehring, Referent für den Christlich-Islamischen Dialog