Gedanken zur Zeit im März 2022: Loslassen und Vergeben

Angesichts der zahlreichen bedrückenden Konfliktsituationen unserer Zeit denke ich oft darüber nach, wie Frieden erhalten werden oder wieder entstehen kann: Der gesellschaftliche Frieden angesichts einer Pandemie, die immer wieder neue Virusvarianten produziert, uns alle damit zwischen der Akzeptanz von Maßnahmen und dem Wunsch nach Freiheit und Entfaltung hin und her wirft. Der Frieden, der mindestens die Abwesenheit von Krieg bedeutet an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine. Der Frieden, der durch eine gerechte Verteilung der globalen Ressourcen gelingen könnte.

Foto: Wendelsteiner, pixabay

Frieden setzt oft ein Loslassen voraus – das klingt ja nicht zuletzt auch in „Ver-Gebung“ mit. Wenn wir oder die anderen den Ärger über die Corona-Maßnahmen oder wenn wir oder die anderen die Angst vor der Krankheit einfach los lassen könnten, wäre es vermutlich einfacher, sich auf einander einzulassen? Wenn militärische Mächte von der Idee absehen könnten, die Waffen aufeinander zu richten und zu benutzen, könnten bewaffnete Kriege nicht mehr stattfinden und wenn wir, die Menschen in den Industrienationen, unseren Anspruch loslassen könnten, von allem mehr als genug besitzen zu müssen, wären Konflikte um die Verteilung von Gütern vermutlich eine Seltenheit.

Das klingt so einfach, und wir wissen: Das ist es nicht. Ein indianisches Sprichwort sagt, man solle über niemanden urteilen, in dessen Schuhen man nicht gelaufen sei. Dennoch fällt uns nicht nur das Loslassen schwer, sondern schon ein solcher Perspektivwechsel – im Großen wie auch im Kleinen.

Wenn wir auf unsere internationalen kirchlichen Partnerschaften schauen, können wir das von unserer Seite aus eigentlich nicht ohne die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit dieser heutigen Beziehungen tun. Wenn wir auf unsere Kirche sehen, dürfen wir die Strukturen nicht ignorieren, die Missbrauch und Leid möglich gemacht haben. Wenn wir auf unsere persönlichen Beziehungen aller Art blicken, müssen wir auch da an mancher Stelle zugeben, dass uns die „Schuhe“ unseres Gegenübers nicht weiter interessiert haben.

Und dennoch liegt in all diesen Verhältnissen ein Moment, das uns in Verbindung bringt. Diese Verbindung macht Vergebung möglich und nötig. Die Menschen, die sich beispielsweise im Parent‘s Circle in Israel und Palästina engagieren, haben das Verbindende in den Blick genommen.

Ich wünsche mir, dass wir in der Suche nach Frieden auf das schauen, was uns verbindet – das, was gut an einer Situation ist: Selbst ein Konflikt birgt die Chance, eine ganz andere Sichtweise kennen und möglicherweise auch verstehen zu lernen. Das kann bedeuten, einer neuen Entwicklung eine Chance zu geben, selbst wenn etwas Ähnliches vor Jahren vielleicht schon einmal schief gegangen ist. Es kann heißen, sich auf Begegnungen mit Menschen einzulassen, in denen vertraute Muster der eigenen Bezugsgruppe nicht greifen. Ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, neuen Wegen zu vertrauen, uns verschiedene Perspektiven zu gönnen und aus dem Gelingenden Kraft und Zuversicht zu gewinnen.

Unser Glaube kann uns dabei helfen, meine ich. Wir sollen und dürfen vertrauen, dass wir in Gottes Augen unumstößlich liebenswert sind, selbst wenn wir fern davon sind, in allem gut und wahr zu sein. Dass wir uns trotzdem als von Gott geliebt wissen dürfen, ermöglicht uns einen sehr ehrlichen und realistischen Blick auf uns selbst in Konflikten: Wahrheit und Güte sind nicht unbedingt auf unserer Seite. Und andersherum heißt das ja auch: Auch mein Konfliktpartner ist zuletzt immer ein von Gott geliebter Mensch, auch trotzdem und trotz allem. Sich selbst und den anderen durch Gottes Augen zu sehen, löst keinen Konflikt und bringt noch keinen Frieden. Aber unser Glaube kann uns in eine Haltung bringen, aus der wir auch loslassen und vergeben können. Das lässt sich auch in den Bezügen erfahren, in denen wir als zentrum für Mission und Ökumene arbeiten und leben.

Direktor Dr. Christian Wollmann