Gedanken zur Zeit im November 2022: Notwendige Veränderungen im Missionsverständnis

„Nur eine Gruppe, die die eigenen Schätze liebt, ist dialogfähig. Eine Gruppe, die von sich selbst überzeugt ist und ihre eigene Sache liebt, missioniert nicht, aber sie hat eine Mission. Diese Mission heißt: zeigen, was sie liebt.“[1]

Fulbert Steffensky entwirft hier in nur drei kurzen Sätzen ein radikal neues Missionsverständnis. Mission bedeutet für ihn nicht länger, alle anderen von der Höherwertigkeit der eigenen Tradition überzeugen zu müssen. Stattdessen lädt er dazu ein, das Eigene wertzuschätzen und in das gleichberechtigte Gespräch mit anderen einzubringen.

Voraussetzung für dieses neue Missionsverständnis ist der Abschied von überkommenen Vorstellungen, wie sie vor allem in der Verbindung von Mission und Kolonialismus geprägt wurden. Ravinder Salooja hat jüngst noch einmal darauf hingewiesen, dass wohl kaum ein anderer Bereich in der kirchlichen und öffentlichen Wahrnehmung so eng miteinander verbunden ist.[2] Es ist eine große Herausforderung, diesem problematischen Erbe gerecht zu werden. Die Schwierigkeit zeigt sich unter anderem daran, dass kaum ein ehemaliges „Missionswerk“ das Wort ‚Mission‘ noch ohne erklärenden Zusatz wie „Ökumene“, „Solidarität“ oder „Eine Welt“ im Namen führt.

Doch wie können wir auf eine produktive Weise mit dieser unseligen Verbindung umgehen, ohne dabei in Extreme zu verfallen? Ein wichtiger Schritt ist die Übernahme historischer Verantwortung. Dazu gehört die Einsicht, dass die gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Situationen in fast allen Bereichen, die vom Kolonialismus betroffen waren, heute noch davon geprägt sind. In der sogenannten postkolonialen Debatte ist die Einsicht entstanden, dass das nicht nur für die ehemaligen Kolonien gilt. Auch die ehemaligen Kolonisatoren sind durch das damals geprägte Selbstverständnis nachhaltig beeinflusst worden.

Ein bis heute nachwirkendes Beispiel ist die „Erfindung des Missionsbefehls“. In der Bibel selbst gibt es eine Vielzahl von Verständnissen, wie der christliche Glauben missionarisch wirksam werden kann: Als Rechenschaft über den eigenen Glauben (Apg 17), Lebenszeugnis (Mt 5,13) oder Sozialdiakonie (Lk 4,18). Die endzeitliche Überzeugungsmission, wie sie in der Kolonialmission zum Teil mit Gewalt ausgeübt wurde, ist nur ein Beispiel unter vielen. Die moderne theologische Forschung hat zudem herausgearbeitet, dass die berühmte Bibelstelle Mt 28, 18-20: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum geht hin zu allen Völkern und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ eigentlich etwas ganz anderes ausdrücken will. Es geht um die universale Entschränkung des Heils in Christus: Gott privilegiert keine einzelnen Gruppen zuungunsten anderer. Alle Menschen und Völker sind auf gleiche Weise wertvoll und haben Zugang zur jesuanischen Lerngemeinschaft.[3]

Der Schatz, den wir als Christenmenschen in Jesus finden können, ist die Weite der Liebe Gottes. Die Herausforderung liegt darin, dass sowohl die Weite als auch die Liebe Gottes immer größer sind als unsere eigenen Vorstellungen und Wünsche. In diesem Sinne sollte der innerste Kern von Mission nicht darin bestehen, andere Menschen von unserer Art des Glaubens zu überzeugen. Es geht vielmehr darum, uns aus den Schranken unserer begrenzten Vorstellungswelten hinausrufen zu lassen. Auf diese Weise werden wir dialogfähig, um von unseren eigenen Schätzen zu erzählen und gleichzeitig die Schätze anderer Religionen, Traditionen und Kulturen neu zu entdecken und uns von ihnen begeistern zu lassen.


[1] Fulbert Steffensky: Lassen und nicht im Stich lassen. Momente einer interreligiösen Grammatik. Vortrag zur Festveranstaltung „Dialog der Religionen – für die Zukunft bilden“ anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bundesverbandes evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (BeA) am 6. November 2oo9 in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin, hier zitiert nach: www.beaonline.de/wp-content/uploads/2015/06/2009_Jubilaeum_Fulbert_Steffensky_Lassen_und_nicht-im_Stich_lassen_Momente_einer_interreligioesen_Grammatik.pdf (abgerufen am 03.11.2022).

[2] Ravinder Salooja: Die Erfindung des Missionsbefehls. Über die koloniale Wurzel der gegenwärtigen Kirchlichkeit und Theologie, in zeitzeichen 8/2022, hier zitiert nach: https://www.zeitzeichen.net/node/10008 (abgerufen am 03.11.2022).

[3] Werner Kahl: Nachfolge im Neuen Testament, in: EMW (Hg.), Vom Geist bewegt – zu verwandelnder Nachfolge berufen. Zur Weltmissionskonferenz in Tansania (Weltmission heute), Hamburg 2018, 143-148.

Pastor Dr. Sönke Lorberg-Fehring, Referent für den Christlich-Islamischen Dialog