Gedanken zur Zeit – Islam und Demokratie

Die Idee, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan aufzubauen, ist mit der Übernahme der Macht durch die Taliban vorerst gescheitert. Nach 20 Jahren Nation Building durch westliche Alliierte erklärt ein hoher Taliban-Kommandant seine Ablehnung eines Staatssystems nach westlichem Muster mit den Worten: “Was eine Demokratie wirklich bedeutet, ist, dass eine islamische, muslimische Person frei ist.”

Wie diese Freiheit in Afghanistan konkret aussehen wird, soll in Zukunft ein Rat islamischer Gelehrter entscheiden. Nach iranischem Vorbild wird er das letzte Wort haben in allen Fragen des öffentlichen und privaten Lebens. Was das für Frauen bedeutet, erklärt der Taliban Sprecher Sabihullah Mujahid: „Die Rechte von Frauen werden respektiert, sie dürfen arbeiten, studieren und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen – allerdings: im Rahmen des Islam.”

Foto: Ibrahim Mücahit Yıldız, pixabay

Es ist kaum zu ermessen, was diese Ankündigung eines „islamischen Rahmens“ für die weltweite Wahrnehmung des Glaubens von über 1,7 Milliarden Muslim*innen bedeutet. Einen Vorgeschmack liefern die immer lauter werdenden Stimmen, dass der Islam mit der parlamentarischen Demokratie und dem deutschen Grundgesetzt nicht vereinbar sei. Dabei wird in der Regel geflissentlich übersehen, dass die Taliban-Vorstellung von einem „islamischen Rahmen“ kaum etwas zu tun hat mit der religiösen und politischen Wirklichkeit des überwiegenden Teils der weltweiten Muslim*innen.

Ideologisch geprägt sind die Taliban vielmehr von der so genannten Deobandi-Bewegung, einer im 19. Jahrhundert auf dem indischen Subkontinent entstandenen, streng orthodoxen Bewegung. In scharfer Abgrenzung zum Westen, aber auch zu Schiiten und Sufis, will diese Lehre den Islam zu seinen vermeintlich echten Wurzeln zurückführen. Verbreitet hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in Pakistan. Es braucht nicht viel Fantasie, um vorherzusagen, dass diese religiöse Sonderlehre die öffentliche Wahrnehmung dennoch auf Jahre hinaus bestimmen wird. So wie 9/11 das Bild des Islams seit nunmehr 20 Jahren untrennbar mit Terror und Angst verbunden hat, wird es zukünftig keine Diskussion um das Verhältnis von Islam und Demokratie geben, in dem nicht auf die Taliban verwiesen wird.

Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es willkürlich ist, das Verhältnis der Muslime zur Demokratie ausgerechnet an den Taliban festzumachen. Zeitgleich zur französischen Revolution wurde im Osmanischen Reich eine beratende Versammlung angestrebt. Die Allianzcharta von 1808 beschränkte die Macht des Sultans in Istanbul. 1876 wurde erstmals ein parlamentarisches System religionsunabhängiger Mitbestimmung eingeführt. Im Zuge der jungtürkischen Revolution wurde dieses parlamentarische System erweitert. Auch in den arabischen Staaten Ägypten, Irak, Syrien und dem Libanon entstanden zwischen den beiden Weltkriegen Demokratien.

Diese frühe Demokratiebewegung ist allerdings an ähnlichen Herausforderungen gescheitert, wie sie in den letzten Jahren in Afghanistan wie im Zeitraffer zu beobachten waren: Auf der einen Seite korrupte, gewalttätige und vetternwirtschaftliche Strukturen, die einen tiefergehenden Rückhalt demokratischer Ideen in der Bevölkerung verhindern. Zum anderen koloniale bzw. als kolonial erlebte Bestrebungen westlicher Staaten, die das Gefühl eines politischen Ausgeliefertseins hervorrufen.

In den 1920er Jahren hat sich als Reaktion auf diese Erfahrung in Ägypten die „Muslimbruderschaft“ gegründet. Sie ist zunächst als ländlich-populistische Bewegung angetreten, die mit Hilfe einer erneuerten muslimischen Moral eine neue „Ordnung des Islams“ durchsetzen wollte. Heute sind die „Muslimbrüder“ eine der einflussreichsten politischen Bewegungen der arabischen Welt und agieren weltweit im Bereich des religiös begründeten Extremismus.

Dabei spielen ihnen Themen in die Hände, die in der gegenwärtigen medialen Diskussion in Deutschland kaum mehr vorkommen, in der muslimischen Community aber eine große Rolle spielen: Die westliche Militarisierung afghanischer Flüchtlinge nach der militärischen Intervention der UdSSR in Afghanistan, die falschen Aussagen der USA zu angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak, der Abu-Ghuraib-Folterskandal und die inzwischen über eine Million zivile Opfer des „war on terror“.

Der wachsende Einfluss der Muslimbrüder erscheint dabei wie eine Blaupause zum Erfolg der Taliban: Beide inszenieren sich als Widerstandsbewegung gegen eine Scheindemokratie, in der unter dem Deckmantel vermeintlicher demokratischer Prozesse eine korrupte Elite Gelder veruntreut, Wahlen fälscht und lokalen Kriegsherren Macht ermöglicht. Dadurch gelingt es den Taliban, ähnlich wie den Muslimbrüdern, sich als antielitäre Widerstandspartei zu gerieren, die mit Hilfe eines „islamischen Rahmens“ endlich Recht und Ordnung schaffen.

Gegen diese Vermischung von Religion und Recht wird von westlichen Kritiker*innen immer wieder eingewendet, dass „der“ Islam endlich auch eine „Aufklärung“ durchmachen müsse. Analog zu der europäischen Emanzipationsbewegung, die sich im 19. Jahrhundert vom umfassenden Anspruch des Christentums auf die Belange von Staat und Öffentlichkeit befreit hat, sollen sich muslimische Gläubige heute dem Anspruch der Taliban und Muslimbrüder widersetzen und für eine Trennung von Staat und Religion eintreten. Dabei wird zweierlei übersehen: Erstens ist die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Religion in islamischen und christlichen Staaten ganz unterschiedlich verlaufen. Zweitens hat auch die Aufklärung gerade in Deutschland die Christenheit nicht von ihrer breiten Zustimmung zu schlimmsten Menschheitsverbrechen abgehalten.

Als weiteres Hindernis auf dem Weg zur Versöhnung von Islam und Demokratie wird von Kritiker*innen das Schreckensbild einer Schariaherrschaft heraufbeschworen. Dabei werden oftmals zwei unterschiedliche Begriffe von „Scharia“ durcheinandergebracht. Zunächst bedeutet der arabische Begriff „Scharia“ nur „Weg zur Quelle“ und meint die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen. Hierzu zählen die sogenannten Fünf Säulen des Islam: das Bekenntnis zum Monotheismus, die Ritualgebete, der Ramadan, die Armenfürsorge und die Wallfahrt nach Mekka. Daneben wird „Scharia“ aber auch benutzt für Praktiken wie die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, die Überordnung des Islams über andere Religionen, grausame Körperstrafen, Ablehnung von Demokratie und dem Widerstand gegen unterschiedliche Lebensformen.

In der öffentlichen Diskussion wird meistens der zweite, verkürzte Begriff von „Scharia“ verwendet. Dabei gibt es weite Bereiche des islamischen Rechts, die grundsätzlich kompatibel sind mit westlicher Gesetzgebung, wie zum Beispiel das Vertrags-, Schuld-, Wirtschafts- und Handelsrecht. Im Koran selbst finden sich nur ein paar Dutzend Verse, die sich explizit mit rechtlichen Aspekten befassen. Deswegen ist eigentliche Hauptquelle für rechtliche Fragen auch die Sunna, also die Gesamtheit der überlieferten Worte und Taten des Propheten Mohammed. Aufgrund der unklaren Herkunft vieler Berichte hat sich ein eigener Wissenschaftszweig gegründet, der ihre Rechtmäßigkeit untersucht. Weitere Möglichkeiten zur Rechtsfindung sind der Analogieschluss, in dem zwei bekannte Dinge miteinander verglichen werden, und der Gelehrtenkonsens. Es liegt auf der Hand, dass es in der 1400-jährigen Geschichte des Islam dabei zu unterschiedlichsten Auslegungstraditionen gekommen ist.

Der einzige ausdrücklich staatsrechtliche Vers im Koran lautet: „Gehorcht Gott, und gehorcht dem Gesandten und denen unter euch, die Befehlsgewalt besitzen!“ (Sure 4:59) Was damit genau gemeint ist, bleibt offen und bietet, je nach politischer Präferenz, Raum für unterschiedlichste Auslegungen. Diese Freiheit der eigenen Meinung ist kein Zufall, sondern eine entscheidende Dimension des Islams. Denn die unterschiedlichen Auslegungstraditionen sind Ausdruck der uralten islamischen Tradition der Ambiguität. Gemeint ist damit ein positives Verhältnis zur Vielfalt: Danach ist es gar nicht erstrebenswert, dass Widersprüche in einer einzigen und für alle verbindliche Lesart aufgelöst werden. Vielmehr können unterschiedliche Werte und Normen friedlich nebeneinanderstehen.

Diese Kultur wird durch den Anspruch der Taliban, eine für alle gültige Auslegung der Religion aufzurichten, bedroht. Gleiches gilt für die Religionspolitik ägyptischer Muslimbrüder und iranischer Revolutionsführer. Die Vielfalt der muslimischen Welt zeigt sich aber darin, dass es trotz dieser Versuche auch weiterhin demokratische und theologische Aufbrüche gibt. Ein starkes Signal war der Arabische Frühling, in dem länderübergreifend Menschen öffentlich für ihre Rechte eingetreten sind. Auch wenn momentan die Akteur:innen des arabischen Frühlings in vielen Ländern durch gewalttätige Herrscher beinah zum Verstummen gebracht sind, so erzeugt diese Bewegung doch immer noch viel Nachhall. Und auch im theologischen Raum gibt es Neuorientierungen, die Beachtung verdienen. Ein wichtiges Beispiel ist die Bewegung des „critical traditionalism“, deren vielleicht bekannteste Stimmen in Deutschland Muna Tatari ist, die als erste Muslimin in den Deutschen Ethikrat berufen wurde.

Diese beiden Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass der Siegeszug der Taliban in Afghanistan auf keinen Fall das Ende der Vielfalt innerhalb der muslimischen Welt bedeutet. Er ist vielmehr eine sehr schmerzliche Zwischenstation auf dem langen Weg zu einer neuen, offenen und zugewandten Beschäftigung mit der ungemein bunten, schimmernden und tiefgründigen Welt des Islam.

Dr. Sönke Lorberg-Fehring, Beauftragter für Christlich-Islamischen Dialog