Gedanken zur Zeit: Religiöse Feste als fröhliche Widerstandsmomente

„Alles hat seine Zeit“ – aber bitte nicht für alle gemeinsam und schon gar nicht verpflichtend! Auf diesen kurzen Nenner scheint der gesellschaftliche Umgang mit religiös geprägte Zeiten aktuell hinauszulaufen. Das gilt nicht nur für christliche Feste wie Weihnachten oder Karfreitag, sondern auch für den muslimischen Fastenmonat Ramadan.
Weihnachten beginnt mit den ersten Spekulatius schon im September. Die gesetzlich vorgeschriebene Stille und Zurückhaltung am Karfreitag wird zunehmend in Frage gestellt. Und der 28 tägige Fastenmonat Ramadan wird oftmals von Mitleid und Verärgerung über Muslime begleitet, die in dieser Zeit spirituelle Innerlichkeit suchen und körperlich weniger Leistungsfähig sind.

Foto: Muhammad Ragab, pixabay

Statt aufeinander Rücksicht zu nehmen und die jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse zu respektieren, nagt der spätmoderne Anspruch ständiger Leistungsfähigkeit an den Gläubigen – egal welcher Religion. Die aktuelle Antwort auf die Frage, was wir für die Gesellschaft tun können, lautet deshalb: Produktiv sein und Fortschritt schaffen. Ruhe, Einkehr und Innerlichkeit – und sei es auch nur für eine kurze Zeit – erscheint merkwürdig rückwärtsgewandt.
Um diesem Sog zu widerstehen, hilft ein Blick auf das dreifache Erleben von Zeit. Das erste ist die geradlinig fortschreitende Zeit: Sie strukturiert das tägliche Leben durch Aufstehen, Frühstücken, Tagesgestaltung und Zubettgehen. Das zweite sind regelmäßig wiederkehrende Momente: Religiöse Feste des Kirchen-, Moschee- oder Synagogenjahres, gesetzliche Feiertage und individuelle Feste wie Geburtstag oder Hochzeitstag. Das dritte ist die Jetztzeit: Der Genuss eines plötzlichen Sonnenstrahls, das spontane Gefühl des Verliebtseins, der Schreckensmoment eines Unfalls.

Feste versus Leistung?

Dieses dreifache Zeiterleben steht miteinander in Verbindung und liegt miteinander in Konflikt. Um gesellschaftliche Produktivität zu gewährleisten, braucht es gemeinsame, regelmäßige Anstrengungen. Um sich davon zu erholen, sind Auszeiten notwendig. Für den Zusammenhalt ist ein gemeinsames Feiern wichtig. Allerdings gibt es zunehmend Streit zwischen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ansprüchen und religiösen Einkehrmomenten.
Religiöse Feste kollidieren mit dem Anspruch, dass Maschinen ununterbrochen laufen sollen, Geschäfte jederzeit offen stehen und Arbeits- und Nachwuchskräfte immerzu leistungsbereit sein müssen. Dabei lässt sich von gemeinsamen Feiern lernen, dass konkrete Lebensprozesse ihre Zeit brauchen: Kinder zu füttern lässt sich nicht beschleunigen, Trauer hat einen eigenen Rhythmus, runde Jubiläen machen Stolz auf das Geschaffte.

Kraft und Lebendigkeit religiöser Feste hängen davon ab, dass die wirtschaftlich nutzbare Zeit die Zeiten zum Ausruhen und Besinnen und der widerkehrenden Momente nicht immer weiter in den Hintergrund drängt. Gleichzeitig widerstehen religiöse Feste dem Anspruch, Alltag und Freizeit zu einem einzigen großen Strom zu verschmelzen, der alle und alles aufsaugt, messbar macht und auf Nützlichkeit hin untersucht. Dabei stehen religiöse Feste nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Erfahrung, dass konkrete Lebensprozesse mehr als nur formal strukturierte Zeiten brauchen: Vielmehr benötigen sie spezielle Übergänge und unterschiedliche Anspannungszustände.

Die Widerstandsmomente religiöser Feste gegen den modernen Anspruch einer linear möglichst gut genutzten Zeit haben mehrere Ursachen: Zum einen reflektieren sie die theologische Einsicht, dass die Zeit uns Menschen nicht frei gegeben, sondern an Gott zurückgebunden ist. Dieses Verständnis findet in der Zwiesprache mit Gott, dem Gebet, seinen zentralen Ausdruck. Im Gebet drückt sich auf prominente Weise ein Umgang mit Zeit aus, der sich fundamental von dem spätmodernen Anspruch unterscheidet, die Zeit möglichst produktiv zu nutzen. Denn das Gebet ist ein Übergang, bei dem die Betenden die Außenwelt verlassen und in eine andere Realität eintreten.2 Zum anderen drücken sich in religiösen Festen menschliche Widersprüche aus, die alle Menschen – in guten wie in schweren Zeiten – betreffen: So ist die Geburt Jesu in Bibel und Koran zwar ein Grund zur Freude. Allerdings steht sie in der Bibel unter dem Eindruck der Flucht nach Ägypten (Matthäus 2,13-15) und des Kindermordes durch Herodes (Matthäus 2,16-18) und im Koran unter den unerträglichen Geburtsschmerzen Marias, die sie wünschen lassen, lieber zu sterben (Sure 19:23) und ihrer drohenden Verurteilung aufgrund des unehelichen Kindes (Sure 19:27).

Religiöse Feste ermöglichen Beheimatung

Religiöse Feste halten die Erinnerung lebendig, dass eine religiöse Ausrichtung des Lebens eine heilsame Relativierung des umfassenden Anspruches nach Leistung und Verwertbarkeit sein kann. Dadurch wird eine hilfreiche Unterscheidung zwischen Gott und Mensch deutlich gemacht: Gott schafft Leben und schenkt Orientierung. Dafür gebührt ihm Dank und Anbetung. Zudem drücken sich in religiösen Festen Erfahrungen und Erlebnisse aus, die deutlich machen, dass Leben immerzu bedroht ist und Gesundheit, Glück und Frieden alles andere als Selbstverständlichkeiten sind.

Weder Weihnachten noch Karfreitag oder Ramadan werden von allen Christ*innen und Muslimen in derselben Intensität gefeiert. Manche geben sich ganz in die Feste und ihre Vorbereitung hinein, andere erleben sie eher aus Distanz mit. Aber egal wie stark die jeweilige Bindung ist: Religiöse Feste ermöglichen eine zeitliche Beheimatung, in der das eigene Leben genauso wie das Miteinander mit Familie, Freunden und Bekannten gestaltet wird. Sie binden in Zeitrhythmen ein, die über jede menschliche Logik hinausweist. Bildlich gesprochen schwingen sie damit uns Menschen auf eine ältere und zugleich körpernähere Zeitwahrnehmung ein und ermöglicht dem eigenen Leben mindestens einen weiteren Rhythmus neben der alltäglichen Abfolge von Arbeit und Freizeit.

Ähnlich wie Geburt und Tod kommen religiöse Feste oft zur Unzeit, weil sie eine Gegenbewegung zum Alltag sind. Statt Ruhe und Gelassenheit bringen sie dann Hektik und Stress, weil das Haus noch nicht geputzt ist, das letzte Geschenk noch besorgt sein will oder für die Fastenzeit vorgekocht werden muss. Wie viel schöner wäre es, wenn sie stattdessen ein fröhlicher Teil eines anderen Alltags sein könnten, der sich durch Momente auszeichnet, die quer zu allen Zeiten liegen. Sie könnten eine willkommene und lebensbejahende Unterbrechung der Alltagszeit sein. Und das nicht nur, weil sie zentrale Lebensgeheimnisse in sich tragen, sondern weil ihre Abfolge von Anspannung, Entspannung und Einkehr die zentrale Lebenshoffnung ausdrückt: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31).

Pastor Dr. Sönke Lorberg-Fehring, Beauftragter für Christlich-Islamischen Dialog