Gewaltfreiheit kann man lernen


Friedenspädagogin Dr. Sumaya Farhat-Naser

Was es bedeutet, sich in einer Krisenregion wie Palästina für Gewaltfreiheit einzusetzen, damit hat die Friedenspädagogin Dr. Sumaya Farhat-Naser Erfahrung. Sie arbeitet an mehreren Schulen und bei ihr lernen Kinder, Jugendliche und Eltern, wie sie durch gewaltfreies Denken und Handeln Frieden mit sich selbst und anderen schließen können. Zuvor hatte sie sich viele Jahre in Frauengruppen für den Frieden zwischen Israel und Palästina engagiert. Die Erziehungswissenschaftlerin und Autorin wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet: Sie schildert nun ihre Erfahrungen in einem Interview, das sie für die  Zeitschrift weltbewegt geführt hat. 

Seit langem engagieren Sie sich für Frieden im Nahen Osten. Was bedeutet es heute, als Christin in Palästina zu leben?

Farhat-Naser: Die Christen machen nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung aus. Aber das merken wir nicht, denn wir sind überall involviert. Christen und Christinnen sind die drittgrößten Arbeitgeber in Palästina. Sie betreiben viele Schulen und Krankenhäuser. In den palästinensischen Gebieten haben wir zwölf anerkannte christliche Kirchen sowie mehr als 40 christliche Sekten und Gruppierungen. Letztere kommen, um zu missionieren. Meist sind es jedoch Amerikaner oder Europäer, die ihre eigenen Interessen verfolgen.

Sie selbst sind evangelisch?

Nein, ich bin ökumenisch. Wir sind übrigens überzeugt, dass wir Überbleibsel der ersten Christinnen und Christen sind. Denn bei den uns umgebenden Religionen, dem Judentum und dem Islam, ist Mission verboten. Wer also bei uns sagt, er oder sie sei Christ, ist es von Geburt an. Die Christinnen und Christen in unserem Land waren zuvor meist Juden und Jesus war unser Landsmann.

Wie kommen Angehörige christlicher und muslimischer Religionen in Palästina miteinander aus?

Wir haben über Jahrhunderte gelernt, die Verschiedenheiten der Religionen zu respektieren. Wenn ein Streit droht, sagen wir: Es ist Gottes Wille, dass es viele Religionen gibt. Es gibt eine hohe Sensibilität für Fairness. Wenn Christinnen oder Christen in einem Gremium in der Mehrheit sind, macht jemand von uns Platz für einen muslimischen Vertreter.

Ehen zwischen Angehörigen der unterschiedlichen Religionen sind dagegen nicht gern gesehen. Ist die gemischte Ehe ein Tabu?

Es ist ein schwieriges Problem. Denn mit jeder Religion sind bestimmte Traditionen verbunden. Während wir uns als Christen frei fühlen unsere Tradition neu auszulegen, ist das bei Muslimen nicht erlaubt. Ich wäre zum Beispiel nicht damit einverstanden, dass meine Tochter einen Moslem heiratet. Nicht weil ich die Muslime nicht mag, sondern weil ich weiß, welche Konflikte entstehen könnten, vor allem im Bezug auf die Kinder, die dann nicht wissen, wo sie hingehören. Eine Frau heiratet nicht nur den Mann, sondern immer auch die ganze Familie. Aus diesem Grund gibt es bei uns selten Mischehen. 

Erzählen Sie uns von Ihrer jetzigen Arbeit in Ramallah ….

Als die Arbeit in Frauengruppen in Jerusalem nicht mehr möglich war, beschloss ich, in Schulen zu gehen und mit Kindern zu arbeiten. Sie sollten lernen, Frieden mit sich selbst und anderen zu finden.

Auf welcher Grundlage basiert Ihre Friedensarbeit?

Gewaltfrei denken, sprechen, fühlen und handeln lernen. Das kann man nur, wenn man sich die Prinzipien der Gewaltfreiheit aneignet und sie Teil des eigenen Charakters werden. Alle Menschen haben gleiche Rechte. Jeder und jede wird geboren und ist anders, manchmal  vielleicht eigenartig. Aber gerade darin liegt die Weisheit der Schöpfung. Sonst wäre es langweilig. Sobald man denkt: der oder die andere ist komisch, lassen sich die Gedanken in eine neue Richtung lenken: „Aha, die Person ist anders, vielleicht bin ich auch anders.“ Es geht darum, nicht gleich negative Gefühle aufkommen zu lassen. Man kann lernen, den Gedanken zu verbinden mit: „Na ja, ist doch nicht schlimm, ist doch schön“.

Der andere Punkt: Wir sind geboren mit einem wunderbaren Kern. Es liegt an uns selbst, das Wunderbare zum Leben zu erwecken. Dafür muss man sich auch selbst in den Blick nehmen, man muss lernen, sich selbst zu finden, zu verwalten, zu korrigieren. Auch ein Verbrecher ist aus der Perspektive Gottes gesehen ein wunderbarer Mensch. Dafür, was aus ihm geworden ist, sind die Umstände verantwortlich. Wenn ich daran glaube, dass ich mit einem guten Kern geboren bin, sage ich mir: Auch wenn ich Fehler mache, kann ich von Neuem beginnen. Ich kann lernen, dass ich mich nicht ständig rechtfertigen muss, sondern kann lernen, mir zu vergeben, damit ich weiterkomme …

Auf welche Lehre berufen Sie sich?

Auf die Lehre von der Gewaltfreiheit, von Mahatma Ghandi, Marshall Rosenberg und Johann Galtung. Sie geben mir eine Ermächtigung, dass ich mit Problemen im Leben fertig werden kann. Wenn Menschen nur Schreckliches erfahren, nur von Unrecht hören, brechen viele zusammen oder gehen in den Untergrund. Grundsätzlich ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, dass man gesund bleibt. Gesund bedeutet auch, gewaltfrei mit sich und mit den anderen umzugehen. Ich weiß, wie glücklich diese Haltung Kinder und Jugendliche machen kann. Wenn man lernt diese Prinzipien zu verinnerlichen, wird dem Hass der Boden entzogen. Hass zersetzt auch die eigene Seele. Ich leide ja selbst darunter, wenn ich hasse.

Welche Gewalterfahrungen prägen Ihre Arbeit?

Fast jeden Tag werden zwei oder drei Palästinenser erschossen. Auch gestern, auch vorgestern. Und schauen Sie, wie die israelische Polizei in Jerusalem gegen Frauen und Männer vorgeht. Gleichzeitig gibt es Gewalt von Palästinensern, Attentate gegen israelische Soldaten. Die Brutalität nimmt zu. Hunderte von bewaffneten Palästinensern patrouillieren bei uns durch die Straßen. Sie sind von den israelischen Behörden als Sicherheitsleute zugelassen. Gleichzeitig sind es auch diejenigen, die gegen die Israelis kämpfen wollen. Diese Bewaffneten machen den Leuten Angst. Die Bevölkerung ist frustriert und entsetzt über die palästinensischen Behörden, die oft handlungsunfähig sind, denn sie unterliegen völlig den Vorgaben der Militärbehörden, die die Besatzung festigen. In diesen Konstellationen leben wir.

Wie arbeiten Sie in dieser heiklen Situation mit Kindern und Jugendlichen?

Es gibt sehr viel Gewalt gegenüber den Kindern in den Familien. Sie werden oft geschlagen. In sechs Schulen setze ich mich in den Klassen mit dem Thema Umgang mit Gewalt auseinander. Nicht nur mit den Kindern, auch mit Lehrern und Eltern. Wir arbeiten in Workshops und in therapeutischen Gesprächen. Zum Beispiel mit Müttern, die selber Gewalt erfahren haben oder die selbst ihre Kinder schlagen. Die Mütter sind oft verzweifelt. Sie suchen nach Hilfe. Sie wollen wissen, wie man die Kinder am besten vor Gewalt schützen kann, aber auch, wie wir sie davor bewahren können, selbst Gewalt anzuwenden, gegenüber anderen in der Schule oder auf der Straße.

Natur und heilige Pflanzen kommen auch in Ihren Büchern immer wieder vor. Warum ist Ihnen der Bezug dazu so wichtig?

Mit den Studierenden an der Uni pflanzte ich 9000 Bäume. In erster Linie Kiefer, Johannisbrotbäume, Olivenbäume, Zypressen. Bei uns wird so viel gebaut, und dafür werden Bäume abgeholzt. So pflanzen wir immer wieder neu. Es ist mir wichtig, dass wir pflanzen und schauen, wie es wächst.Das stärkt die Haltung: Das Leben geht weiter. Die Natur ist reich, die Freude ist groß. Dieser Blick ist wichtig. 

Ich komme zu einem Thema zurück, das auch uns seit dem Krieg in der Ukraine auf den Nägeln brennt: Waffen liefern oder irgendwie Frieden suchen? Wie nehmen Jugendliche in Palästina dies wahr?

Der Krieg in der Ukraine hat so viel bewirkt bei uns. Auch mein 9-jähriger Enkelsohn sagt: „Oma, die NATO ist so gut. Die sind gegen Besetzung. Sie intervenieren, sie geben Hilfen. Warum machen sie das nicht auch bei uns? Die Jugend ist fasziniert von den hochentwickelten Waffen, die Vernichtung bringen. Niemals zuvor hat man im Fernsehen so viel davon gezeigt. Was sage ich diesen Jugendlichen als Friedenserzieherin? Zunächst: Ich bin schockiert. Ich bin ein Kind der 68er Studentenbewegung in Deutschland. Ich hätte nicht gedacht, dass wir im Jahr 2022 hier Menschen sehen, die für Waffenlieferungen plädieren. Wenn Sie Waffen liefern, verlängern Sie den Krieg. Ich erinnere daran: Krieg ist das beste Geschäft. Die Waffenindustrie boomt. Auch in Deutschland. Man stelle sich vor, die mächtigen Staaten würden keine Waffen mehr produzieren. Reichtum und Wohlstand hier basieren auch auf dem Geld, das von dort kommt.

Was sagen Sie den Kindern und Jugendlichen, die sich für Waffen begeistern?

Zunächst: Wir haben keine Chance mit Waffengewalt zu gewinnen. Wir müssen vielmehr lernen, uns zu schützen, damit niemand zu Schaden kommt. Natürlich können wir stark sein. Stark in Lebenskunst. Hierbleiben zu können, hier zu überleben, das ist unsere Stärke. Vor allem müssen wir lernen: Bildung ist wichtig. Egal wo wir hinkommen. Mit einem Visum können wir weiterleben und überall arbeiten. Das sind meine Prinzipien. Manche sagen: Es geht nur mit Gewalt. Dann antworte ich: Mein Weg fordert kein Blut. Euer Weg ist voll mit Blut.

Was sind Ihre Kraftquellen gegen Ohnmachtsgefühle und Resignation?

Ich glaube an die Kraft Gottes, die uns gegeben wird. Ich sage dann: Ich weiß, du bist da. Beten ist wichtig – auch für die, die nicht an Gott glauben.

Das Interview führte Hedwig Gafga. Das vollständige Interview ist nachzulesen in der nächsten Ausgabe von weltbewegt, die im Dezember erscheint.