Ist das UN Binding Treaty das bessere Lieferkettengesetz?

Es gibt Stimmen, die in dem jetzt verabschiedeten Lieferkettengesetz der Bundesregierung kolonialistische Strukturen wiederholt sehen, da es eine Initiative des globalen Nordens darstelle, die die Menschen des globalen Südens erneut zu Objekten degradiere, ist an dieser Kritik etwas dran?

Die Antwort lautet NEIN. Die Behauptung, dass das Lieferkettengesetz koloniale Strukturen beinhalten würde, zeigt große Wissenslücken. Schön und ethisch wäre es gewesen, wenn die Initiative zur unternehmerischen Achtung der Menschenrechte und der Umwelt aus dem Globalen Norden gekommen wäre. Aber es ist nicht der Fall. Das Lieferkettengesetz dient der Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Diese UN-Leitprinzipien sind Teil eines langjährigen Prozesses auf internationaler Ebene zur Ausformulierung der unternehmerischen Verantwortung. Schon 1973 gründete die UNO die Commission on Transnational Corporations mit dem Ziel, einen Verhaltenskodex für transnationale Unternehmen zu formulieren. Seitdem arbeiten Menschenrechtsexpert*innen aus verschiedenen Ländern (aus dem Globalen Süden, Norden, Osten und Westen) zusammen, z.B. arbeiteten in der damaligen (2003) Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte Leute aus Pakistan, Brasilien, Frankreich und Mozambique zusammen.

Diana Sanabria
Eleanor Roosevelt präsentiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Ich würde die Kritikerinnen und Kritiker der Regulierung der unternehmerischen Verantwortung gegenüber Menschen(rechte) und Umwelt gerne fragen, warum die Achtung der Menschenrechte auf einmal Menschen „zu Objekten degradiere“. Dass das bekannteste Bild der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Bild von Eleanor Roosevelt ist, heißt längst nicht, dass die Menschenrechte eine Erfindung des Globalen Nordens wären. Nicht zufällig ist diese Erklärung auf Roosevelts Bild auf Spanisch. Lateinamerika und andere Länder aus dem Globalen Süden haben sich diese Erklärung diplomatisch erkämpft. Die Kolonialmächte waren 1948 an Rechte für die kolonisierte Bevölkerung wenig interessiert. Das ist auch die Logik der unternehmerischen Verantwortung. Wo werden typischerweise Menschenrechte verletzt und Umwelt verschmutzt? (Ja, im Globalen Süden) Woher kommen die Unternehmen, die in diesen Orten Menschenrechte und Umwelt nicht achten? (Ja, oft aus dem Globalen Norden) Wer hat also Interesse an der Regulierung der unternehmerischen Verantwortung? Und wer eher nicht?

Diana Sanabria

Durch das Lieferkettengesetz würden Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen möglicherweise noch schlechter gestellt und ihre Lebensumstände weiter erschwert – wie kann der Schutzgedanke des Gesetzes sichergestellt werden?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass durch das Lieferkettengesetz Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen möglicherweise noch schlechter gestellt werden. Was passieren kann, ist das Geschäfte, die auf Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter basieren, enden. Das würde ich als eine sehr positive Sache bezeichnen. Oft wird gesagt, dass es total schlimm wäre, wenn ein multinationales Unternehmen ein sogenanntes Entwicklungsland verlassen würde. Was ist das Schlimme daran, wenn die Menschenrechtsverletzungen aufhören? Der koloniale Gedanke daran, dass die sog. Entwicklungsländer für Investitionen aus den sog. entwickelten Ländern dankbar sein sollen, ist inakzeptabel. Vor allem wenn die Investitionen mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden verbunden sind.
Das Lieferkettengesetz schützt die Menschenrechte in Bezug auf Arbeit. Im § 2 sind die Rechtspositionen, die durch das Gesetz geschützt werden. Da finden wir beispielsweise das Verbot der Kinder- und Zwangsarbeit. Ganz schön finde ich als Frau z.B. das Verbot der Ungleichbehandlung nach § 2 Abs. 2 Nr. 7. Im Sinne dieser Vorschrift umfasst eine Ungleichbehandlung insbesondere die Zahlung ungleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit – Stichwort Gender Pay Gap. Wir können nicht erwarten, dass das Lieferkettengesetz alle Probleme löst, aber es ist ein sehr guter erster Schritt in die richtige Richtung.

Diana Sanabria

Kritiker des Lieferkettengesetzes sehen das UN Binding Treaty als bessere Alternative, da es gemeinsam von den UN-Mitgliedern entwickelt wurde. Was unterscheidet diese beiden Statuten, was verbindet sie und wem können sie nutzen?

Es wäre gut, wenn wir ein globales Instrument hätten, das den Staaten dazu verpflichten würde, die unternehmerische Verantwortung bzw. die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zu regulieren. Es gibt einzelne Länder – wie Frankreich mit dem Loi de vigilance und Deutschland mit dem Lieferkettengesetz –, die so ein Abkommen nicht brauchten, um ihrer Pflicht zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt nachzukommen. Trotzdem finde ich das UN-Binding Treaty sehr wichtig, weil wir dann mehr Lieferkettengesetze auf der Welt hätten. Damit will ich sagen, dass das Treaty keine Alternative zum Lieferkettengesetz ist, sondern eine Ergänzung.

Das UN-Binding Treaty – noch in Verhandlungen – hätte die Natur eines internationalen Abkommens. Ein solches Instrument benötigt einer Ratifizierung seitens der Staaten, um bindend zu werden. Wenn ein Staat ein internationales Abkommen ratifiziert hat, muss er das Abkommen umsetzen. Das bedeutet oft, dass Gesetze erlassen werden. Aber bevor es zu einer Ratifizierung kommt, vergehen mehrere Jahre in Verhandlungen. Das ist der Fall des UN-Binding Treaty, das auf Initiative von Ecuador und Südafrika vorangetrieben wird. Den Menschen, die in ihren Rechten verletzt werden, oder der Umwelt, die zerstört wird, können wir nicht sagen, dass sie noch ein paar Jahre warten sollen, ohne zu wissen, ob die Verhandlungen erfolgreich sein werden – ich hoffe ja. Währenddessen sind die Lieferkettengesetze, also die Regulierung(en) der verbindlichen menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten, willkommen! Deswegen sind wir jetzt an der Regulierung auf europäischen Ebene dran.

Diana Sanabria

Das Lieferkettengesetz in seiner jetzigen Form kann nach Auffassung der Akteur*innen in der Initiative Lieferkettengesetz nur ein Anfang sein – welche perspektivischen Entwicklungen wünschen Sie sich für dieses Themenfeld?

Ich wünsche mir ein Lieferkettengesetz, dass für alle Unternehmen gilt, für die es zumutbar ist, ein Managementsystem der Risiken für Menschenrechte und Umwelt einzuführen. Damit meine ich unter anderen kleine und mittlere Unternehmen aus Risikobranchen – Branchen wie Textilien, Bergbau, Lebensmittel, Chemikalien.
Außerdem wünsche ich mir ein Lieferkettengesetz für die ganze Lieferkette von Anfang an. Nach der aktuellen Fassung des Lieferkettengesetzes gelten die Sorgfaltspflichten vorerst für den eigenen Geschäftsbereich und für die unmittelbaren Zulieferer. Nur anlassbezogen führen Unternehmen bei mittelbaren Zulieferern eine Risikoanalyse durch oder ergreifen angemessene Präventionsmaßnahmen. Es müssen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die eine Verletzung einer menschenrechts- oder umweltbezogene Sorgfaltspflicht bei mittelbaren Zulieferern möglich erscheinen lassen, damit das Unternehmen tätig wird. Das ist falsch, weil es einen Fehlanreiz zum Wegschauen setzt: „Je weniger ich weiß, desto weniger tue ich“.
Noch ein wichtiger Punkt ist die Sonderregelung der zivilrechtlichen Haftung. Für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen ist unheimlich schwer, gegen Unternehmen mit Sitz in Deutschland gerichtlich vorzugehen. Unmöglich ist es nicht, aber es wäre leichter, wenn z.B. klar wäre, dass das deutsche Recht anwendbar wäre.
Zuletzt müsste das Lieferkettengesetz mehr Umweltgüter schützen. Der Schutz von Klima und Biodiversität muss konkret werden. Unternehmen tragen eine große Verantwortung hier und diese Verantwortung sollten wir der Freiwilligkeit nicht überlassen.
Wie Sie sehen, ist das Lieferkettengesetz ein Anfang. Verbesserungsbedarf ist da. Ich bin trotzdem gespannt auf die Durchsetzung des Gesetzes. Das Mittel, das der Bundestag dafür vorgesehen hat, ist eine behördliche Kontrolle und Durchsetzung. Die Behörde (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle) ist mit ihren Befugnissen sehr gut ausgestattet und kann konkrete Handlungen anordnen. Zwangs- und Bußgelder sind auch vorgesehen. Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass wir mit dem Lieferkettengesetz ein transformatives Instrument haben. Die Zeit der Menschenrechte und der Umwelt in der Wirtschaft ist gekommen

Diana Sanabria