Mehrdeutigkeit aushalten – ein Interreligiöses Experiment

Am 18.Februar trafen sich 30 Teilnehmende aus christlichen, muslimischen, alevitischen, buddhistischen, bahai und säkularen Kontexten und versuchten, ihre eigene Ambiguitätstoleranz im interreligiösen Miteinander auszuloten. Zu diesem Experiment hatten das Referat für Christlich-Islamischen Dialog, die Evangelische Akademie und die Schura – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg eingeladen. 

Der Begriff der Ambiguitätstoleranz stammt ursprünglich aus der Psychologie und bezeichnet dort die Fähigkeit eines Menschen, das Vorhandensein von positiven und negativen Eigenschaften in ein und demselben Objekt erkennen und aushalten zu können. Die Fähigkeit, diese Koexistenz zu erkennen und zu gestalten, ist wichtig für die emotionale und kognitive Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Ihr Gegenteil ist ein eindimensionales „Schwarz-Weiß-Denken“. Eine solche Ambiguitätsintoleranz bedeutet ein Verschließen gegenüber der Realität, die niemals nur Eindeutig ist.  

Foto: Muntaha Nega, pixabay

Ambiguitätstoleranz ist nicht zu verwechseln mit dem weiter gefassten Feld der Ambivalenz. Ambivalenz meint das gleichzeitige Vorhandensein liebevoller und hasserfüllter Impulse, die sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen. Ambivalenz drückt einen inneren Konflikt aus, der gezeichnet ist vom Hin- und Hergerissensein zwischen gegensätzlichen Aspekten. Ambiguität dagegen bezeichnet die Tatsache, dass alle Sachverhalte in sich schon immer mehrdeutig sind und verschiedene Deutungen zulassen. Indem sie sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen, können sie einerseits kulturelle Kreativität und religiöse Vielfalt hervorbringen. Andererseits können sie leider auch Unsicherheit und Abwehr auslösen.  Seinen Ursprung hat das Wort im lateinischen „ambiguitas“, das als „Zweideutigkeit“, „Doppelsinnigkeit“ und „Doppeldeutigkeit“ genauso wie als „Unbestimmtheit“, „Unsicherheit“ und „Vagheit“ übersetzt werden kann.

Diese Bedeutungsvielfalt zeigt die ambige Herausforderung des Lebens: So wie Wörter aus fremden Sprachen nicht ohne Bedeutungsverschiebung ins Deutsche übersetzen werden können, so tragen alle Dinge, mit denen wir umgehen, eine große Verständnisvielfalt in sich. Zwar können wir versuchen, diese Vielfalt möglichst eng einzugrenzen. Dazu müssen wir Wörter möglichst genau definieren. Aber jede Definition hat seine Grenzen: Denn wie lässt sich ausdrücken, dass derselbe Regen für eine Person den Aufenthalt im Freien unmöglich macht, während er für eine andere Person eine willkommene Bewässerung des Gartens bedeutet? 

Ausgelöst hat das Experiments der Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer von der Universität Münster. Er ist für sein Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ 2013 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet worden. 2018 hat den Reclam Band „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ nachgelegt. Darin vertritt Bauer die These, dass der positive und kreative Umgang mit Vielfalt eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben ist. Statt Vielfalt einzudämmen oder gar zu vernichten, plädiert Bauer dafür, sich im Umgang mit ihr einzuüben und sie auszugestalten. 

Alle Menschen und Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Deswegen sollte das interreligiöse Experiment dazu anleiten, miteinander ins Gespräch darüber zu kommen, wie gut oder schlecht uns das gelingt. Wie können wir Zwei- und Mehrdeutigkeit nicht nur hinnehmen, sondern vielleicht sogar begrüßen, dass sie in Religionsdingen mitunter bewusst erzeugt werden? Als vielleicht berühmtestes Beispiel kann hier das Verständnis der Person „Jesus Christus“ in den verschiedenen Weltreligionen gelten: Die einen sehen in ihm den wahren Gott und gleichzeitig den wahren Menschen, andere betonen seine menschliche Abstammung als „Sohn der Maria“ und sprechen gleichzeitig von ihm als Gesandten, Propheten, Geist und Wort Gottes. Wieder andere zweifeln an seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung, während sie gleichzeitig seinen sozialrevolutionären Impuls positiv aufnehmen.  

Die vielfältige Herausforderung, vor der wir als religiöse Menschen stehen, hat einer der Teilnehmenden mit dem berühmten Zitat von Karl Barth auf den Punkt gebracht: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen, und eben damit Gott die Ehre geben.“ 

Für einen guten Umgang miteinander in der zunehmend religiös diversen Gesellschaft in Deutschland ist Ambiguitätstoleranz eine wichtige Ressource. Dabei ist schon das Wort Religion selbst schon ambig: Isoliert betrachtet kann es die eigene Glaubensüberzeugung ausdrücken. Als Gattungsbegriff kann es aber auch die Vielheit alle Riten und Vorstellungen meinen, die der unterschiedlichen Glaubenspraxis verschiedener Menschen zugrunde liegt. Während die einen also zu Recht sagen können, es gibt nur eine richtige Religion – und zwar ihre eigene, können andere mit dem gleichen Recht sagen, es gibt viele Religionen und alle sind gleichberechtigt.  

Diese Unklarheiten können sowohl als Freiheit erlebt werden, weil sie viele Deutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt. Sie können aber auch als Unsicherheit erfahren werden, weil sie keinerlei Wahrscheinlichkeitsaussagen machen.  

Solche interreligiösen Experimente, wie sie das Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit hier initiiert hat, können dazu dienen, dass Menschen aus unterschiedlichen Religionen über ihren jeweiligen Glauben miteinander ins Gespräch kommen. Solche Begegnungen sind wichtige Bausteine eines friedlichen Zusammenlebens, weil sie an die Stelle einer Hermeneutik des Verdachts und der Vorsicht eine Hermeneutik des Wohlwollens und Vertrauens begründen. Statt Beliebigkeit zu erzeugen, kann hier eine Kultur eingeübt werden, die Widersprüche aushält und anerkannt, dass Gott zu uns Menschen ganz offenbar nun einmal nicht klar definiert spricht, sondern mit Varianten. Unsere Aufgabe als religiöse Menschen ist es, diese Varianten produktiv auszugestalten – zum Wohle der Menschen und zur Ehre Gottes.