Polen: Nach der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes

In Polen wurde das Abtreibungsrecht, dass bereits seit 1993 als eines des restriktivsten Europas galt, weiter verschärft. In vielen Städten und Kommunen  gab es daraufhin deutliche Proteste, die auch vor kirchlichen Einrichtungen nicht halt machten. Beim digitalen Treffen der deutsch-polnischen Arbeitsgruppe berichteten Anna Wrzesińska, Agnieszka Tarnogorska und Zofia Niemczyk, von ihren Erfahrungen. Anna Wrzesińska ist Referentin des leitenden Bischofs der Evangelisch-Augsburgischen (lutherischen) Kirche in Polen, Agnieszka Tarnogorska Pressesprecherin der Kirche und Zofia Niemczyk evangelische Theologiestudentin in Warschau.

Proteste 2016 in Warschau: Ein Kleiderbügel erinnert an die Gefahr von illegalen Abtreibungen Foto: Wikipedia

Die Geschichte des Abtreibungsrechts in Polen beschreibt den Rückbau von Selbstbestimmungsrechten der Frauen: Seit 1956 war Abtreibung im sozialistischen Polen auch aus sozio-ökonomischen Gründen möglich. 1993 einigten sich Kirche und Regierung aber auf einen Kompromiss, der Abtreibungen nur noch in drei Fällen erlaubte: 1. die Gesundheit der Mutter ist gefährdet, 2. der Fötus ist schwer geschädigt, oder 3. das Kind ist durch eine Gewalttat entstanden.  

Von 1993 bis 2016 wurde das Abtreibungsrecht zwar im Parlament häufig diskutiert, dennoch kam es nicht zu einer Änderung dieses Gesetzes. Mit dem Wahlsieg der rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) 2015 entfachte die Diskussion erneut. Bereits zwei Jahre zuvor war die ultrakonservative juristische Stiftung „Ordo Juris“ gegründet worden. Sie wird von so genannten Lebensschützern finanziert und setzt sich gegen die Anerkennung von Homosexualität und Abtreibungen ein. 2016 brachte Ordo Juris einen Gesetzentwurf zu einem kompletten Abtreibungsverbot ein, das nicht nur das medizinische Personal, sondern auch die Mutter bzw die gesamte Familie unter Anklage stellen sollte. Ein weiterer Entwurf sah indes die Legalisierung von Abtreibungen unter bestimmten Umständen vor. Lediglich der Vorschlag von Ordo Juris wurde aber zur Weiterarbeit an die parlamentarischen Ausschüsse verwiesen, , Daraufhin kam es zu vielen Protesten der Frauenbewegung. Beispielsweise den schwarzen Montag: In 140 Orten in Polen und auf der ganzen Welt waren Frauen schwarz gekleidet und gingen mit Regenschirmen auf die Straße. Letztendlich wurde die Verschärfung des Abtreibungsrechts durch das Parlament abgelehnt. 

Im Herbst 2019 ließen 119 Abgeordnete der PiS vom Verfassungsgericht prüfen, ob die Abtreibung bei einer schweren Krankheit bzw. Schädigung des Fötus verfassungswidrig sei. Von den 1.064 Abtreibungen in 2019 waren 98% wegen der Schädigung des Fötus erlaubt, d.h. ein Verbot dieser Begründung der Abtreibung verbietet Abtreibung fast generell. Am 22. Oktober 2020 entschied das Verfassungsgericht ohne vorherige parlamentarische Debatte, dass die Abtreibung auch in solchem Fall verfassungswidrig ist. Darauf gab es eine große kirchen- und regierungskritische Protestwelle im ganzen Land, bei der hunderttausende auf die Straße gingen. Viele Organisationen im In- und Ausland, und sogar die Verkehrsbetriebe in Warschau, zeigten ihre Solidarität.  

Proteste auch gegen die Kirche

Die Protestbewegung forderte unter anderem mehr Frauenrechte und die Anerkennung der LGBT-Community. Die Regierung kritisierte die Proteste, die sich auch gegen kirchliche Institutionen und Veranstaltungen richteten, sehr stark. Agnieszka Tarnogorska berichtet: „Polen wird stereotyp als katholisches Land gesehen,  aber es gibt viele Kirchen und Konfessionen. Im nationalen Zensus steht die lutherische Kirche beispielsweise an vierter Stelle. Die katholische Kirche kämpft auch in Polen wegen ihres Umgangs mit Missbrauchsfällen und der Nähe zum Staat mit einem starken Vertrauensverlust. Zwar gibt es seit 2009 ein Kinderschutzgesetz, aber dennoch sind Einrichtungen und Veranstaltungen der katholischen Kirche oft Ziel der Protestaktionen.“ 

Die Lutherische Kirche hat auf die Proteste reagiert. Die Bischöfe haben Anfang November 2020 eine Verlautbarung veröffentlicht, in der sie betonen, dass die Kirche zwar an das Gewissen appellieren, aber keine Änderungen staatlichen Handelns einfordern soll. Sie bedauern die Spaltungen in Gesellschaft und Kirche, denn die Menschen seien mit der Freiheit eines Christenmenschen gesegnet und könnten daher auch schwierige Entscheidungen selbst treffen.

Es gab viele positive Reaktionen auf die Erklärung, allerdings nur eine von Seiten der katholischen Kirche. Die synodale Kommission für Frauenarbeit sowie die Diakoninnen forderten am 10. Dezember 2020 die Einführung der Frauen- und Reproduktionsrechte. Auf Twitter sagte der Leitende Bischof, dass die Allianz von Thron und Altar den Kirchen langfristig nicht gut tue. Pastoraler Dienst brauche offene, nicht verbarrikadierte Kirchen. Der Schwerpunkt kirchlicher Verkündigung solle auf Gottes Gnade und nicht auf dem Gesetz liegen.  

Abtreibungen vermehrt im Ausland

Die Theologiestudentin Zofia Niemczyk berichtet von der generellen Situation in Polen: „Das Abtreibungsverbot stark geschädigter Föten ist problematisch, zumal die staatliche finanzielle Unterstützung von Menschen mit Behinderungen nicht zufriedenstellend ist. Auch hat die Verschärfung des Abtreibungsrechts nicht zu weniger Abtreibungen geführt. Sie wird durch Pillen zuhause oder durch Abtreibungen im Ausland durchgeführt. Letztere sind aber sehr teuer, so dass es sich nur Reiche erlauben können, zumal in Pandemiezeiten die verpflichtenden Corona-Tests bei Grenzübertritt zu den Kosten hinzukommen.“ Es gibt Organisationen, die Abtreibungen im Ausland finanziell fördern.

In Polen hat die kirchliche Lehre dazu geführt, dass Sexualerziehung ein Tabu ist. Auch der Zugang zu Verhütungsmitteln ist in Polen (und Ungarn) sehr schwierig, so dass es zu mehr ungewollten Schwangerschaften kommt. Es gibt kein Abtreibungsberatungssystem mit Psycholog*innen und Ärzt*innen, mit dem sich manche gegen eine Abtreibung entscheiden würden.“ so Zofia Niemczyk: „ Und auf riesigen Plakatwänden propagieren konservative katholische Stiftungen ihr Weltbild. Sie verursachen gemischte Gefühle, denn sie verunsichern Kinder oder erzeugen Schuldgefühle, wenn Menschen die Forderungen nicht erfüllen können. In der Protestbewegung sind viele junge Menschen, aber insgesamt ist die gesellschaftliche Spaltung weder eine Altersfrage, noch einfach ‚konservativ‘ gegen ‚liberal‘. Es gibt einen sehr starken Einfluss der konservativen Bewegung der katholischen Kirche, aber auch innerhalb der katholischen Kirche gibt es andere Meinungen. Das führt sogar zu Spaltungen innerhalb der Familien.  Es gibt ältere Menschen, die protestieren, damit es nicht erneut starke staatliche Restriktionen gibt. Zugleich gibt es junge Menschen, die die Verschärfung unterstützen, auch an der Christlichen Akademie in Warschau. Bei den lutherischen Studierenden schätzt Zofia Niemczyk die Meinung auf etwa 50:50.