Predigt über Mk 5,38-41

„Ihr habt gehört, dass gesagt wurde (2. Mose 21,24): ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“

Der Plan der Terroristen von Dresden, Paris, Nizza und Wien ist ebenso grausam wie perfide – und das Schlimmste ist: Er scheint aufzugehen! Denn die Morde lösen nicht nur Schrecken, Schmerz und Trauer aus. Sie sähen auch Zwietracht, Vorurteile und Streit.
Das Ziel der Terroristen besteht darin, so viel Spaltung wie möglich zu erreichen. Muslime und Nicht-Muslime sollen einander entfremdet werden und erschrocken voreinander zurückweichen. Alle Gemeinsamkeiten sollen zerstört werden. Statt Begegnungen zu suchen und miteinander zu reden, soll Angst und Misstrauen vorherrschen. An die Stelle von Mitgefühl und Anteilnahme sollen Unterstellungen und Vorwürfe treten.

Wie stark dieses Gift wirkt, lässt sich an unzähligen Beispielen beobachten. „Egal, wo ich auftauche“, sagte mir neulich ein muslimischer Kollege türkischer Abstammung, „die meisten Leute zucken erst einmal vor mir zurück.“ Ganz ähnliche Erfahrungen mache ich als Beauftragter der Nordkirche für den christlich-islamischen Dialog. Es gibt kaum eine Veranstaltung, an der ich teilnehme, in der nicht irgendwann die Sorge formuliert wird, dass „der“ Islam eine geheime Agenda verfolge. Auf die Spitze getrieben hat es neulich ein ehemaliger Pastor, der mir sagte: „Warten Sie es ab: Wenn die Muslime erst einmal in Deutschland das Sagen haben, müssen wir alle tun, was die sagen.“

Manchmal versuche ich mir einzureden: ‚Das sind doch nur einzelne Stimmen‘. Aber repräsentative Untersuchungen ergeben leider das Gegenteil. Laut einer Umfrage der Evangelischen Kirche in Deutschland 2018 sagen in den westlichen Bundesländern 52% und in den östlichen 61%: „Der Islam passt nicht in die deutsche Gesellschaft.“
Ich bin sehr besorgt darüber, was solche Zahlen und entsprechende Erfahrungen in Muslimen auslösen. Es erschreckt mich, wenn eine muslimische Kollegin mir berichtet, wie erschöpft vor allem junge Frauen sind, die aufgrund ihrer Kopftücher in der U-Bahn und auf der Straße beschimpft und bedroht werden. Vor diesem Hintergrund fällt es Extremisten leicht, vor allem junge Leute zu radikalisieren nach dem Motto: „Ihr seid eben nicht erwünscht. Macht euch nichts vor: Ihr werdet nie dazugehören.“

Der nächste Schritt auf diesem unseligen Weg ist das Angebot, sich autoritären Strukturen unterzuordnen, und in ihre brandgefährliche Botschaft einzustimmen: „Weil überall Gefahr und Verrat droht, müssen wir unsere Reihen fest schließen.“
Es kann kein Zufall sein, dass die Attentäter von Dresden, Paris, Nizza und Wien alle in Kontakt mit entsprechenden terroristischen Kreisen standen. Von dem Gefühl ‚Wir oder die und nichts dazwischen‘ ist es nicht mehr weit, alle, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, abzuwerten, in radikaler Absicht zu entmenschlichen und in grausamer Konsequenz zu töten.
Und doch: Terrorismus hat niemals mit Morden angefangen. Attentate resultieren daraus, dass Menschen in Gruppen eingeteilt und Bedrohungsszenarien entworfen werden, dass autoritäre Strukturen entstehen und blinder Gehorsam gefordert wird, dass die vermeintlich anderen entmenschlicht werden und als Gefahr erscheinen, die beseitigt werden muss.
Wie können wir als Christ*innen darauf reagieren? Was sollen wir als Glieder der Kirche dieser Entwicklung entgegengesetzten? Worin besteht unser Auftrag als Teil einer religiösen Gemeinschaft, die sich – zumindest hier und heute – gegen Krieg und Gewalt und für gerechten Frieden einsetzt? Die Bibel bietet uns einen reichen Schatz von Möglichkeiten und Bildern, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Doch Vorsicht: Dieser Schatz ist durchaus ambivalent. Zeigt er doch, dass die christliche Geschichte von den Anfängen an nicht frei ist von Konflikten und Auseinandersetzungen. Es ist wichtig, das nicht zu vergessen. Mord und Totschlag gehörten lange Zeit zum selbstverständlichen Repertoire kirchlichen Handelns in der Welt – nicht immer und nicht überall – aber leider Gottes immer wieder an vielen Orten weltweit.

Deswegen steht es uns – meiner Ansicht nach – als Christinnen gut zu Gesicht, zurückhaltend zu sein angesichts der großen Herausforderungen, mit denen die islamische Weltgemeinschaft gegenwärtig konfrontiert ist. Denn auch wenn wir gerade unter dem Schock der Attentate auf Nicht-Muslime in Europa stehen: Die allermeisten Opfer der fundamentalistischen Terroristen sind selbst Muslime.
Ich sehe unsere zentralen Herausforderungen als Christ*innen darin, mit allen, die unter der zunehmenden Spaltung leiden, in Kontakt zu bleiben oder, wenn keine Kontakte bestehen, neue zu begründen. Dabei denke ich vor allem an die Muslime, die als Nachbarinnen, Kollegen, Bekannte oder Freunde Teil unseres gemeinsamen Landes sind. Helfen kann uns dabei der Ausschnitt aus der Bergpredigt, der unserer Predigt zugrunde liegt. Darin heißt es: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Wer jetzt irritiert ist und denkt: Der will doch nicht mit der Bergpredigt Politik machen, den und die kann ich beruhigen und sagen: ‚Doch, denn genau dafür ist sie da! Allerdings in einem etwas anderen Sinne, als es auf den ersten Blick erscheint.‘ Mit der Aufforderung, die andere Wange hinzuhalten, ist nämlich nicht gemeint, das Böse einfach zu ertragen oder mit Gewalt zu antworten, sondern einen Weg jenseits von „Kampf und Flucht“, „Beschämung, Erniedrigung und Zerstörung“ einzuschlagen. . Wenn wir uns die Szene, die Jesus hier beschreibt, genauer anschauen, wird deutlich: Ein Schlag mit der rechten Hand würde die linke Wange treffen. In der Bibel steht aber: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar.“ Gemeint ist hier ein Schlag mit dem Handrücken. Auf diese Weise wurden in der Antike Untergebene zurechtgewiesen und gedemütigt. Indem Jesus vorschlägt, auch die linke Backe hinzuhalten, müsste nun mit der flachen Hand und nicht mehr mit Handrücken geschlagen werden. Das wäre der Eintritt in eine neue Art der Auseinandersetzung: eingeleitet durch ein selbstbewusstes ‚Ich lasse mich von Dir nicht demütigen und erniedrigen … wenn Du mich schon schlagen möchtest, dann in einem ehrlich Kampf gleichberechtigter Partner*innen‘.

Den gleichen Impuls folgt auch der zweite Vorschlag Jesu: „Wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Auf diese Weise würden diejenigen, die ihr Gegenüber klein machen und demütigen wollen, mehr als nur in Verlegenheit geraten. Öffentliche Nacktheit ist im damaligen Israel ein Tabu. Wer die Forderungen der anderen Seite wortwörtlich befolgt, würde aber weniger sich selbst beschämen, sondern vielmehr diejenigen, die durch ihr Verhalten die Nacktheit verursacht haben.
Solche paradoxen Formen der Konfliktunterbrechung sind selbstverständlich kein Allheilmittel. Und sie wirken auch nicht, wenn sie nicht in längerfristige kommunikative Netzwerke eingebunden sind. Sie setzen Vertrauen voraus, dass Gewalt- und Eskalationsspiralen unterbrochen werden können und wir nicht der Eskalationslogik der Terroristen ausgeliefert sind.
Christ*innen können diesen Schatz ihrer Tradition in das gemeinsame Gespräch mit anderen – in unserem Fall: mit Muslimen, – einbringen. Da es aber um Dialoge geht und diese – wenn sie ehrlich gemeint sind – möglichst gleichberechtigt geschehen sollten, möchte ich auch den Koran auf sein Potential zur Konfliktunterbrechung hin befragen. Denn selbstverständlich kennt der Koran auch solche Bilder. Allerdings unterliegen sie der gleichen Schwierigkeit wie in der Bibel: Sie erklären sich oft nicht von selbst. In dieser Frage sitzen Christ*innen und Muslim*innen definitiv in einem Boot. Wir müssen beide in einem ersten Schritt in exegetischer Feinarbeit in den Tiefen der Texte darum ringen, die produktiven Potentiale unserer Heiligen Schriften zu entdecken. Um sie dann, in einem zweiten Schritt und notfalls gegen erhebliche Widerstände, in das gemeinsame Gespräch einzubringen. Ich möchte das gewaltunterbrechende Potential des Korans ebenfalls an einem Beispiel aufzeigen, an dem es der gängigen Meinung nach ganz sicher nicht vermutet wird: dem sogenannten „Schwertvers“ (Q 9.5). Dort heißt es: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, lasst sie laufen! Siehe, Gott ist bereit zu vergeben, barmherzig.“ Auf den ersten Blick klingt die Anweisung des Korans so, als wenn alle getötet werden sollen, die nicht bereit sind, zum Islam zu konvertieren. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich: Es geht um eine bestimmte historische Situation, in die der Vers hinein gesprochen ist und für die er gilt.

Dem Text nach gab es zur Zeit des Propheten Mohammad in Mekka zwei Gruppen von sog. „Beigesellern“, also diejenige, die nicht Gott alleine anbeten, sondern noch weitere Götter und Gewalten. Mit beiden hatte Mohammad einen Vertrag geschlossen. Doch nur eine Gruppe hielt sich daran. Die andere brach ihn und war im Begriff, Mohammad und seine Gefährten anzugreifen. Vor diesem Hintergrund ist der Vers als ein „Aufruf zur Selbstverteidigung“ und zugleich als Drohung gegenüber den untreuen Vertragspartnern zu verstehen. Als Mohammad kurze Zeit später Mekka eroberte, bleibt es weitgehend friedlich und die meisten Mekkaner*innen nehmen den neuen Glauben freiwillig an – ohne Kampfhandlungen oder Bestrafungen. Daraus lässt sich folgern, dass der „Schwertvers“ in seiner Absicht, einen Konflikt, der zu eskalieren drohte, zu entschärfen, durchaus erfolgreich war.
Selbstverständlich lässt sich fragen, ob aus der Perspektive der Bergpredigt Abschreckung Teil einer prophetischen Botschaft sein muss. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Jesus seine Bilder und Gleichnisse im Zusammenhang einer funktionierenden Rechtsordnung entworfen hat. Allein das Bild eines Gerichtsprozesses, in dem der Kläger alle Kleider des Angeklagten fordert und der sich als Reaktion auf die Forderung ganz auszieht, lässt sich in keinerlei Hinsicht auf die Zeit Mohammads übertragen. Es gab in Mekka zu dieser Zeit keine zentrale richterliche Gewalt, sondern ein ständiges Gegeneinander verschiedener Stämme und Familien. Der vielleicht größte friedenspolitische Erfolg Mohammads war es, diese Konflikte zugunsten einer neuen, gemeinsamen muslimischen Identität zu befrieden.
Für Muslime weltweit ist Mohammad deshalb ein Vorbild in Sachen Frieden. Für viele Nicht-Muslime, die den Koran nicht kennen oder ihn ganz anders als die große Mehrzahl der friedensliebenden Muslime lesen, ist das nur schwer nachzuvollziehen. Diese völlig unterschiedliche Wahrnehmung erinnert mich an die Situation, in der 1985 der englische Popmusiker „Sting“ sein Lied „Russians“ veröffentlichte. Das Lied ist ein Plädoyer gegen den damals vorherrschenden „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West und die Drohung, dass sich im Falle eines Angriffs Russland und Amerika gegenseitig zerstören würden – und den Rest der Welt gleich mit. Um dieser Situation etwas entgegenzusetzen, singt Sting: „We share the same biology. / Regardless of ideology./ What might save us, me and you, / is if the Russians love their children, too.” „Wir teilen die gleiche Biologie, / unabhängig von Ideologie. / Was uns retten könnte, mich und dich, / ist, wenn die Russen ihre Kinder auch lieben.“

Die vorherrschende Erzählung im „Kalten Krieg“ war, dass die jeweils andere Seite nur Schlechtes will. Und nun forderte Sting seine Zuhörer*innen zu einem Rollentausch auf: Wie es wäre, sich vorzustellen, dass die Menschen in Russland ihre Kinder genauso lieben wie man selbst. Für die Dauer eines Liedes waren alle dazu eingeladen, nachzuspüren und zu erleben, was alle miteinander verbindet: Fürsorge für unsere Nächsten, Anteilnahme mit denen, die Trauern, Schutz für die, die Angst haben.
Es braucht Kreativität, um der Verlockung des Fundamentalismus zu widerstehen. Es braucht Mut, neue Schritte zu wagen. Und es braucht Phantasie, um eingefahrene Denkmuster in Frage zu stellen. Doch nur so können wir Grenzen überwinden, die wir uns selbst und die andere uns setzen, auf dass wir Schritt für Schritt dem Weg des Friedens folgen, auf dem der eine und barmherzige Gott uns auf verschiedenen Wegen zu sich führt. Amen