Tag Fünfunddreißig

Jeden Abend um zehn, wenn lange nach der Andacht auch der letzte Kurs vorbei ist, ruft Sarah durch mein Fenster. Sie ist das einzige Mädchen in der Bible School, und mit neunzehn von allen die Jüngste. „Nora! Umelala?“ – Hast du schon geschlafen?
Meistens verschieben wir das Schlafen dann noch eine Weile, essen Kekse, telefonieren gemeinsam. Wir unterhalten uns, mal über FGM, mal über die Oberweite unserer männlichen Genossen, und ich vergesse, je in Kenia „alleine“ gewesen zu sein. Wenn wir beide krank sind, weht ihre Stimme als Flüstern durch meinen Vorhang.
Die Bible School (ein warmer Raum hinter der Küche) hat vor zweieinhalb Wochen angefangen und elf neue Beziehungen in mein Leben gepflanzt. Im Gegensatz zu den Gästen, deren Bekanntschaft man lediglich streifen kann bevor sie im Fluss vorbeiziehen, sind die zehn Theologiestudenten plus Teacher Dominik wie kleine Pfeiler, die jeden Tag weiter aufgetürmt werden und vom Grundstein an festen Halt versprechen. Drei Jahre dauert die Ausbildung zum Pastor, und beinahe ein Drittel der Zeit darf ich begleiten…
Den Großteil der Woche verbringe ich mit im Unterricht, der im Moment (zumindest vormittags) von einem rührenden amerikanischen Ehepaar gehalten wird. Die Teilnahme an den Kursen (interkulturelle Psychologie und Liturgie) sowie an allen Andachten wird mir selbstverständlich und bedingungslos in den Schoß gelegt und ich muss zunehmend einsehen, dass mein anfängliches Bestreben, all dem Geschenkten durch Arbeit gerecht zu werden, völlig utopisch ist – momentan beschränken sich meine Leistungen auf gebrochene Übersetzungen für meinen Sitznachbarn, der kein Englisch spricht, und die gelegentliche Zubereitung von Guacamole.
Dass ich nicht arbeite, findet niemand schlecht. Ich verkörpere geradezu die Freizeit und stoße bisher mit allen kreativen Anregungen auch in der Gruppe auf große Zustimmung – freier und schöner hätte mein Lebensstil post-Abi kaum sein können. Mit Zeit wird nicht gegeizt und dennoch gibt es so viel davon – so habe ich auch für mich viel Zeit und komme dazu, an meinen persönlichen Stolpersteinchen (zu denen man teilweise eine neue Distanz gewinnt und die man teilweise ja doch mit sich trägt) etwas zu schleifen.
Jeden Mittwoch bin ich dann zur Abwechslung im Kindergarten, wo wir zusammen lesen, Mathe machen, kneten und natürlich spielen. Ich bin überzeugt, dass es kein effektiveres Mittel gibt, sowohl meinen Endorphinenspeicher aufzufüllen, als auch meinen Bedarf an Körperkontakt zu decken.
Ja, meine Liebe zu Kenia hat sich verwandelt. Sie ist tiefer gesickert, über das hitzige Verliebtsein hinaus zu einem Bauchgefühl, das sich wie Heimat anfühlt. Ich will nicht mehr wissen, wie es sein muss, ohne Sarah einzuschlafen und ohne Wind in den Ohren wieder aufzuwachen.
Dennoch bleibe ich allen „alten“ Polen der Heimat liebevoll verbunden und bedanke mich bei allen, die mich diese Verbundenheit ihrerseits spüren lassen.
 
Ganz liebe Grüße von meinen Mitbewohnern, den Geckos Orfeus und Chunky sowie von Grashüpfer Paul.

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