TGIF #2

Reisen macht dich reicher, als alles Geld der Welt es je könnte.

 
Es ist nun drei Wochen her, dass wir im verregneten Kapstadt gelandet sind, unsere mit dem Nötigsten ausgestattete Wohnung bezogen und unsere Einsatzstelle kennengelernt haben.
Wenn man überlegt, dass drei Wochen im Vergleich zu dem, was noch kommt, nichts sind, ist es überwältigend, wie viel wir schon erlebe durften. Fast alle erdenklichen Emotionen prägten die bisherige Zeit in Südafrika.
Angefangen bei Straßenverkehr. Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, aber wenn man auf dem Beifahrersitz sitzt und die Fahrerin auf der Kreuzung auf die linke Spur abbiegt, dann fürchtet man sich erst vor dem Gegenverkehr, bevor man sich an den Linksverkehr hier erinnert. Entgegen der Erwartungen und Prophezeiungen von daheim sind die Capetonians zum großen Teil sehr zuvorkommend. Wenn man an einer Einmündung wartet, wird man in der Regel vor gelassen, anstatt dort zwanzig Minuten warten zu müssen. Lediglich die Mini-Taxis fahren wie sie wollen. Wenn es also zu Unannehmlichkeiten im Verkehr kommt, liegt das meistens nur an gewissen Eigenheiten der aktuellen Fahrerin unseres Nissans.
Wenn man es dann mit dem Auto einmal aus der Stadt heraus- und in die Natur geschafft hat, sieht man die Schönheit dieses Landes und der Stadt. Majestätisch erheben sich der Table Mountain, der Lion’s Head und der Signal Hill vor dem Horizont und schreien fast schon nach Urlaubsfotos. Mit diesen natürlichen Gegebenheiten gehen leider aktuell auch Unannehmlichkeiten wie tagelange Regen- und Kältephasen einher, sowie frostige Winde, die nur mit Pulli, Jacke und Decke auszuhalten sind. Wenn dann aber die Sonne rauskommt, schafft sie es irgendwie, das Auto in eine Sauna zu verwandeln.
Wie man das Wetter hier unterschätzen kann, haben wir bei unserer Bustour erlebt. Kaum aus dem Auto, schon wurde die Jacke ausgezogen, die Sonne schien. Auf der gut zweistündigen Tour haben wir dann aufgrund von Fahrtwind und Wolkenfront sehr gefroren. Aber das Erlebte hat das mehr als wett gemacht. Unsere Tour führte uns von der Waterfront über die Long Street, vorbei an Kirstenbosch, Constantia und dem Imizamo Yethu Township, weiter zur Hout Bay, Sea Point und Green Point, an der Küste entlang, zurück zur Waterfront. (Fragt einfach Google, was das alles ist.) Auf dieser Tour hatte man einen sehr schönen Blick auf den Touristenmagneten Kapstadt und vergaß für einen Moment, das Leben, das uns hier in Lavender Hill und der New World Foundation (NWF) jeden Tag begegnet.
In der Vorbereitung haben wir nicht selten über die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen unseren Lebensstandards und denen in der Community gesprochen. Themen wie Gewalt, Drogen, Stellung der Frau, Bildung sind hier andere als bei uns zuhause. Aber keine Vorbereitung kann jemandem vermitteln, wie es ist, das Ganze live und in Farbe mitzuerleben. An unserem aller ersten Tag hier in unserer Einsatzstellen hörten wir Schüsse von der Straße. Draußen begannen die Menschen zu rennen und Kinder suchten Schutz in Gebäude. Türen und Fenster wurden verschlossen und verriegelt. Aber nichts eskalierte. Alles lief ab wie routiniert und tausendfach trainiert. Die Menschen wussten was sie taten, was sie tun mussten. Wir waren in dem Moment zu erschrocken, um zu reagieren und realisierten erst, als es vorbei war, was gerade passiert war. Seitdem haben wir nichts Derartiges mehr erlebt. Aktuell herrscht Frieden zwischen den Gangs im Township und dadurch, dass wir „Locals“ zusammenarbeiten, wissen wir: Angst ist in Ordnung, aber wir sind sicher. Wir brauchen uns keine Sorgen machen.
Zu diesem Alltag gehören wir jetzt. Und ein Teil davon ist, dass wir Geschichten erzählt bekommen. In der „Elderly Support Group“ hören wir Frauen von übergriffigen Ehemännern und Söhnen sprechen, in einem aktuellen Schreibprojekt erzählen Menschen aus Lavender Hill von ihren Erfahrungen mit Drogen, durch eigene Abhängigkeit oder süchtige Angehörige. Wenn man hier fragt, wie das Wochenende war, hört man auch mal Dinge wie: „My weekend was nice. There were no shootings.“ (dt.: „Mein Wochenende war schön. Es gab keine Schießereien.“)
Aber das, was eigentlich so beeindruckend ist, sind die Menschen, die trotz der, für unsere Verhältnisse, schwierigen Gegebenheiten, immer lachen können, riesengroße Herzen voller Güte haben und uns immer anbieten, für uns da zu sein, sollten wir etwas brauchen.
An einem Morgen im Kindergarten, hat ein kleiner Junge beschlossen, mich nicht mehr allein zu lassen. Seine Haare sind ähnlich gelockt wie meine, für ihn offensichtlich etwas sehr Spannendes. Nach einer Weile des Spielens und Rumalberns kam er bei mir an, schlang die Arme um meine Beine, schaute zu mir auf und sagte: „I like you.“ Dann lief er wieder zu seinen Freunden, stets kontrollierend, dass ich ihm zuschaue.
Bei regelmäßigen Treffen kommen in der NWF Menschen mit chronischen Krankheiten zusammen. Aber das Ganze ist dann keine Selbsthilfegruppe. Gemeinsam wird Sport in Form von kleinen Workouts gemacht, es gibt Mittagessen, Ausflüge und das anstehende Weihnachtswichteln wird geplant.
Wenn man eine Tour durch das Gebäude macht, sitzen in jedem Raum hilfsbereite Menschen, die für andere da sind, „counseling“ anbieten, Schulprojekte durchführen, Fälle vor Gericht begleiten, „safe spaces“ erschaffen, Jobvorbereitungen machen, Unterstützung anbieten beim Schreiben vom Bewerbungen, Computerkurse veranstalten. Im Township Lavender Hill passiert so viel Gutes, nur leider wird genau das oft vergessen, wenn man über diesen Stadtteil spricht. In dieser Community ist man eine Familie und genauso wurden wir auch empfangen. Wie neue Familienmitglieder.
Als Teil dieser Community tragen wir inzwischen aber auch Verantwortung. Wir gehören hier dazu und das bedeutet, zu arbeiten, sich einzubringen und zu helfen wo es geht. Nach der ersten Woche, die uns als Orientierung diente, arbeiten wir jetzt alle in der After Care, dem Angebot für Schulkinder am Nachmittag. Wer Hausaufgaben hat, bringt diese mit und bekommt hier Materialien wie Bleistifte und Papier, sowie Hilfe, wenn man mal nicht weiter weiß. Für alle anderen gibt es ein sich wöchentlich wiederholendes Programm. Am Montag wird gemeinsam gelesen, dienstags gebastelt, mittwochs „educational games“ wie Puzzles und Ähnliches gespielt, jeden Donnerstag die Junior Clubs, am Tag darauf die Senior Clubs für alle Jugendlichen ab 13 Jahren. Dazu kommt das tägliche, von der NWF gestellt Mittagessen.
In den kommenden Wochen, werden wir immer stärker verantwortlich werden für die Planung der Einheiten jeden Tag. So sind die Junior und Senior Clubs zum Beispiel für inhaltliche „Sessions“ und Themen wie Pubertät, Sex, Religion, Mobbing und so weiter vorgesehen. Diese zu gestalten und zu leiten wird Teil unseres Aufgabenfeldes sein. Für die Dienstage haben wir die letzten beiden Male bereits die Ideen geliefert. Beim Blumenmalen mit Händen voller Farbe und dem Basteln von Schmetterlingen haben wir gemeinsam den Frühling begrüßt, der hier langsam Einzug hält.
Abseits der Arbeit hat sich in den letzten Wochen auch einiges getan. Die Wohnung wird immer voller, schöner und heimischer, dadurch leider aber auch nicht weniger dreckig. Inzwischen ist der Sonntag darum unser Putztag. Dadurch finden wir langsam unsere neue Routine, zu der auch der Besuch des Kinos jeden Dienstag gehört und mehrmals die Woche das Fitnessstudios, seit dies die flexibelste und einfachste Sportmöglichkeit ist.
Die letzten drei Wochen haben uns bereits vieles geschenkt. Neue Erfahrungen, neue Menschen, neue Erkenntnisse. Die Reise wird immer mehr zu dem prägenden und einflussreichen Erlebnis, für das wir unsere deutsche Heimat verlassen haben. Natürlich vermissen wir das Zuhause, die Familie, die Freunde, aber das hier ist unsere Reise. Ein Jahr Zeit, zu uns zu finden, uns zu bereichern, den Horizont zu erweitern und die Perspektive zu wechseln. Und wo geht das besser, als hier, auf der anderen Seite der Welt.

Comments:

Thomas Schindzielorz
09.09.2018

Hallo Jan, Danke, dass du uns an deinen Erlebnissen teilhaben lässt. Du berichtest sehr bildlich und beim lesen des Textes entstehen detaillierte Bilder im Kopf - toll! Gruß aus dem immer noch recht warmen Buxtehude Thomas

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