Vertrautheit in der Fremde

Wir sind jetzt seit 3 Wochen in China. Es waren Wochen, die sich angefühlt haben wie Monate, Tage an denen man bereits Abends vergessen hatte, was man am Morgen gemacht hatte.
Die ersten Tage in Nanjing waren die erste Reizüberflutung, die erste von vielen, und 20 Tage, die wir gemeinsam in Jiuquan verbracht hatten, brachten eine gewisste Routine in die Gruppe.

Frühstück auf den Zimmern (für die meisten hieß das, dass einfach bis zum Lunch um 12 nichts gegessen wurde; gefüllt waren unsere Mägen eigentlich trotzdem immer), Unterrichtseinheit, Lunch, Chinese challenge oder cultural activity, Freizeit, Dinner.
Bei der Bäckerei in der Nähe des Hotels kauften wir stets unsere geliebten ‚Snickers Kugeln‘ (so nannten wir sie jedenfalls), in der Tee-Bude in der Food Street holten wir Mango-Eistee oder Matcha-Milchshakes.
„Zhège!“, also ‚Das da!‘ hieß es dann, während wir auf die Bilder auf den Karten zeigten. „Xièxie!“, also ‚Danke‘ riefen wir beim verlassen des Lokales.
Fantasievoll erfanden wir Geschichten über unseren Lieblingskoch in dem Lokal, in dem wir immer Beefnoodles aßen, oder wir fühlten uns schlecht, wenn wir in einem anderen unserer Stammlokale Fried Noodles mit Tomate und Ei bestellten, und dann sahen, wie die kleine Tochter der Inhaberin zum Tomaten kaufen auf den Markt geschickt wurde.

Wir entdeckten die Wüste, standen auf dem Westende der chinesischen Mauer und verbrannten uns die blasse Haut dabei, drehten Filme über die Zombieapokalypse, in in der Gobi-Wüste in einer Höhle begann, picknickten an einem künstlichen See und ließen uns von kleinen Fischen an den Füßen rumknabbern.
Und wir machten viel Mittagschlaf. Die Weihnachtsmusik auf der Straße fiel uns gar nicht mehr auf.

Wir adaptierten viele Dinge der chinesischen Kultur schneller, als man denken würde.
Scharfe Chillis wurden in wettkampfähnlichem Ausmaße gegessen, mit den Stäbchen hatte schnell niemand mehr ein Problem. Und die Spritzer auf der Kleidung, die eben so passierten, wenn man lange Nudeln mit Stäbchen isst, trugen wir unbekümmert auf der Brust, denn „Wenn man sich nicht einsaut, war es kein gutes Essen!“

Für ¥1.80 kauften wir Tigerbalsam, welches wir zunächst nicht einmal aufbekamen, weil der Verschluss zu seltsam geformt war. Verstopfte Nasen, müde Augen, Koffeinentzug, Übelkeit und Langeweile konnten mit der frischlich-scharfen Salbe erfolgreich bekämpft werden.

Man lernte sich kennen, wuchs zusammen. Es enstanden die Wurzeln von Freundschaften, bei denen ich mir gut vorstellen kann, dass sie eine lange Zeit halten würden.
Dieses Jahr hier wird vielleicht das Jahr unseres Lebens, und wir begingen nicht nur die ersten Wochen gemeinsam, sondern würden uns bestimmt zu Feiertagen, Geburtstagen und anderen Festen besuchen.

Denn nun, nach 3 Wochen, in denen das Hotel in Jiuquan unser Zuhause war, in denen die Stadt unsere Vertrautheit war, in denen wir als Gruppe zusammengewachsen waren… Mussten wir uns am Bahnhof in Lanzhou nach einer fünfstündigen Zugfahrt von ein ander verabschieden.

Das klingt jetzt viel herzzerreißender, als es eigentlich war, zumal wir uns am nächsten Tag bei dem Medizintest, den wir für das Visum brauchen, sowieso wiedergesehen hatten. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, aus der behütenden Hand Sally’s in die Unvertrautheit unserer Einsatzstellen übergeben zu werden.

Huixian ist kein Bergdorf, wie wir befürchtet hatten. Auch hier dominieren hohe Bauten das Stadtbild, der SUV, in dem wir 5 Stunden lang eingezwängt waren, bahnte sich durch die Straße (ganz getreu den Motti des Autofahrens in China: Zwäng dich in die kleinsten Lücken und Wer bremst verliert) und Nini und ich betrachteten zum ersten Mal unser neues Zuhause.

Unsere Wohnungen befinden sich auf dem Schulcampus. Gestern als wir eingezogen sind, habe ich noch vor dem Auspacken meine Mama per Videochat angerufen und ihr hochemotional (Das ist ein Codewort für ‚weinend‘, aber vor Glück) alles gezeigt. Nach fast 19 Jahren behüteten Hauses mit der Familie, wohne ich also zum ersten mal allein in einem kleinen Apartment. Ein kleines Stück Freiheit und ein großes Stück Verantwortung kommen einher mit dem Schlüssel für das Vorhängeschloss der Tür.

Unsere Schule ist riesig. Laut Eric, dem Englischlehrer der siebten Klasse, ist die Schule für chinesische Verhältnisse eher klein, hat aber viele Schüler*innen. Der siebte Jahrgang besteht aus 18 Klassen, ca. 60 bis 70 Kinder pro Klasse.
Der neunte Jahrgang hat ’nur‘ 14 Klassen.
Jede von uns beiden hat 9 siebte Klassen, für die jede Woche eine Stunde vorbereitet werden muss. Dazu kommen 7 neunte Klassen, die wir jeweils im zwei-Wochen-Takt unterrichten.
Das wird allein schon mit meinem Namensprojekt spannend, da ich jedem*r Schüler*in einen individuellen englischen Namen geben will, ohne Wiederholungen.
Sieht so aus, als müsste ich noch etwas an meiner Namensliste arbeiten, bisher habe ich nur 500 Namen.
Nicht zu vergessen die English Corner, die wir gemeinsam zwei Mal die Woche für die Achtklässler*innen vorbereiten und halten.

Jetzt fängt der Freiwilligendienst also wirklich an. So wirklich-wirklich.
Jetzt geht also wirklich planlos der Plan los.
Wobei, so planlos bin ich gar nicht. Meine erste Unterrichtsstunde ist fast fertig durchstrukturiert, wir gehen gleich Einkaufen und danach muss ich Wäsche waschen und einmal durchwischen.

Wow, das klang ja so, als ob ich jetzt wirklich erwachsen sei.

Comments:

Luise
01.09.2019

Hey Jenny, das ist ja mega schön geschrieben! Freut mich voll, dass euch Jiuquan und ihr euch gegenseitig so ans Herz gewachsen seid. Haben Nini und du denn jeweils eigene Wohnungen oder wohnt Uhr zusammen? Ich wünsche euch erfolgreiche erste Unterrichtsstunden und ein gutes Ankommen in Huixiang! Liebe Grüße :-)

Jenny
02.09.2019

Hey Luise, Danke danke!! Jiuquan war schon eine ganz besondere Erfahrung, die ich froh bin, gemacht haben zu dürfen. Nini und ich wohnen in getrennten Apartments, aber auf dem selben Flur in der Schule. Ich habe meine erste Unterrichtsstunde auch schon heute Mittag, und Nini hat ihre gerade hinter sich gebracht. (Aber es folgen heute noch einige) Liebe Grüße, Jenny

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