Was glaubst du denn?

Hallo da draußen. Über den März hinweg bis Mitte April fand hier im IPC ein besonderes Program statt. Einen Bericht darüber habe ich schon vor einiger Zeit angefangen aber erst jetzt fertig gestellt. Deswegen kommt er jetzt etwas verspätet, aber besser spät als nie:

Die vergangenen Sechs Wochen waren anders, als der Rest des Freiwilligendienstes davor. Ronja und ich haben an einem Theologieseminar teilgenommen, das vom Council for World Mission organisiert und vom India Peace Centre bei uns in Nagpur ausgerichtet wurde. Die letzten sechs Wochen haben mir viel neuen Input beschert, bei mir neue und alte Fragen aufgeworfen, mich aufgerüttelt.

Jeden Morgen ging es für uns um acht Uhr los mit Frühstück in der Gruppe. Diese war eine Mischung aus Theologiestudent*innen aus sieben verschiedenen Ländern (Indien, Süd-Korea, Indonesien, Samoa, Süd Afrika, Sambia, Malawi) und eben Ronja und mir. Anfangs war ich skeptisch: Was soll ich in einem Theologieseminar, zusammen mit Leuten, die das schon mindestens für drei Jahre studiert haben? Mein Wissen beschränkt sich auf Konfirmations- und Religionsunterricht und das, worüber ich mir eben sonst so selbst Gedanken mache. Und natürlich gab es Momente, in denen ich aus Gesprächen ausgestiegen bin, weil man sich in theologische Fachsimpelleien vertiefte. Aber insgesamt haben sich diese sechs Wochen wirklich gelohnt. Das mag unter anderem daran liegen, dass unter dem Thema „Face to Face with the many poor and the many faiths in Asia” nicht nur theologische, sondern auch viele soziale Fragen angerissen wurden.

Mit der Gruppe unterwegs

Seit ich hier in Indien bin, hat sich mein Horizont bezüglich anderer Religionen definitiv schon erweitert. Wenn man in einem Land lebt, das alle Weltreligionen beherbergt und viele Religionen hervorgebracht hat, ist sowas gewissermaßen unvermeidbar. Doch in den letzten Wochen wurden meine Erfahrungen im Alltag mit einigem an tatsächlichem Wissen unterfüttert. In verschiedenen Sessions wurden über mehrere Tage hinweg die grundliegenden Prinzipien von Hinduismus, Islam, Buddhismus und Sikhismus erläutert und besprochen. Die Vorträge wurden dabei immer von eigenen Vertretern der Religionen gehalten, was ich für sehr wichtig halte. Natürlich kann ich jetzt nicht behaupten, dass ich den totalen Durchblick habe. Mein Verständnis ist immer noch sehr oberflächlich. Aber zumindest kann ich nun die drei hinduistischen Hauptgötter Brahma, Vishnu und Shiva auseinanderhalten und ich weiß, was der Unterschied zwischen den Konzepten des hinduistischen Dharma und buddhistischen Dhamma ist.

Was sich bei mir allerdings noch viel mehr eingeprägt hat, als jedes theoretische Wissen über Götter oder Konzepte, ist ein Satz, der in diesen sechs Wochen immer wieder gefallen ist: „We are all human beings first“. Diese Aussage klang für mich anfangs sehr platt und selbstverständlich, aber in dem Zusammenhang, in dem ich sie hörte, gewann sie bei jeder Wiederholung an Bedeutung. Bei all den Gesprächen und Diskussionen über Religionen, Ideologien und Weltanschauungen kommt man sich leicht von Unterschieden überrannt vor. Auch in unserem Alltag fühlen sich diese Unterschiede manchmal unüberwindbar an. Schaltet man die Nachrichten ein, hört man von Menschen, die einander wegen dieser Unterschiede töten. Man hört von Christchurch oder Sri Lanka. Angesichts dessen klingt „We are all human beings first“ fast wie eine Wunschvorstellung. Haben unsere Anschauungen mittlerweile wirklich solch unüberwindbare Mauern zwischen uns errichtet? Das ist eine sehr große Frage, über die sich viel schlaue Menschen den Kopf zerbrechen und vor sich hin philosophieren. Ich habe keineswegs den Anspruch sie hier zu klären, ich möchte an dieser Stelle nur mal meinen eigenen Senf dazu geben.

Im „Klassenraum“ mit einigen der Vortragenden

Was mir neben den Unterschieden auch, oder vielleicht noch viel mehr, aufgefallen ist, sind die Punkte, an denen sich alle von uns besprochenen Religionen einig sind. Keine Religion weißt ihre Angehörigen dazu an, Menschen anderer Ansichten zu Hassen. Jede Religion lässt Interpretationsspielräume und letztendlich ist es die Entscheidung der Gläubigen selbst, wie sie die Schriften und Gebote auslegen. In jeder Religion gibt es Menschen, die versuchen die Vorgaben so auszulegen, dass sie selbst davon profitieren und der Gedanke an das Allgemeinwohl geht dabei verloren. Keine Religion ist immun gegen Extremismus. Aber in jeder Religion sind es die Gläubigen, die dafür verantwortlich sind, was im Namen der Religion passiert. Die Religion ist ein Gerüst welches mit Leben gefüllt gehört. Ambedkar sagte: “Religion is for man, not man for religion.” Dem kann ich mich nach dieser Zeit nur anschließen.

Die oben beschriebenen Ansichten teilte ich größtenteils schon vor diesem sechswöchigen Seminar. Deswegen war ich vielleicht auch schon ein bisschen voreingenommen und meine Schlussfolgerungen sind nicht allzu überraschend. Doch was ich auf jeden Fall mitnehme, ist die Möglichkeit meine gutmenschlichen Vorstellungen mit dem Wissen und der Unterstützung anderer zu untermauern. Ich habe jetzt nicht nur eine Meinung, sondern auch die Werkzeuge, um diese anderen Menschen näher zu bringen. Und ich habe Motivation. Ich habe den Antrieb die Augen nicht zu verschließen, da wo unsere Überzeugungen Mauern bauen, anstatt diese zu überwinden. Ich fühle mich verpflichtet, auch meinen eigenen Mauern im Kopf ausfindig zu machen und einzureißen. Das wird hier durch mein Umfeld katalysiert, aber ich nehme es vor allem auch als Aufgabe zurück in Deutschland wahr. Man darf gespannt sein.

Bis dahin,

Eure Svenja

Der Lotus Tempel in Delhi, ein Gebetshaus der Baha’i

Comments:

Janna
16.05.2019

Liebe Svenja, vielen Dank für den spannenden Beitrag und deine interessanten Gedanken. Es regt richtig zum Nachdenken an. Ich finde es toll zu lesen, wie du dich selbst und auch den Austausch mit den Seminarteilnehmenden reflektierst. Bin schon ganz gespannt, mehr zu lesen und zu hören. Viel Spaß weiterhin beim Mauern einreißen :) Liebe Grüße aus dem ZMÖ Janna

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